Den Völkern den Frieden erklären

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Den Völkern den Frieden erklären

Rede auf der Großdemonstration in Bonn am 10.10.1981

Im August 1981, einem Jahr des Herrn, verkündete ein anderer Herr den Befehl zum Bau von Neutronenbomben. Es war ein Tag, an dem viele Menschen in der Welt der Opfer jener beiden ersten Nuklearbomben gedachten, die man auf Befehl eines ebensolchen anderen Herrn auf Menschen geworfen hatte. So wurde eine Totenklage zu einem Bombenjubiläum.

Denn auch eine Atombombe hat für manche Herren ihre zwei Seiten. Sie sehen nicht nur die Opfer, sie sehen auch die gute Sache, für die sie geworfen werden. Der Herr amerikanische Außenminister, laut unserem Herrn Bundeskanzler „der neue Alexander“ ‒ der alte Alexander war ein Kriegsheld und Welteroberer und selbsternannter Gott ‒ dieser neue Kriegsgott also hat uns in Berlin in bewegenden Worten das Menschenbild des freien Westens geschildert. Ich würde es umreißen mit den Begriffen Freiheit, Menschenrecht und Menschenwürde und nicht zuletzt Frieden.

Und für dieses Menschenbild sind die Bomben gefallen. Man kann also jene Bomben durchaus Friedenswaffen nennen. Und solcher Friedenswaffen braucht man sich nicht zu schämen. Auch ein Atompilz kann eine Fahne sein, die uns voranweht auf dem Weg zu neuen Friedensbomben.

Theoretisch kann man auf zweierlei Weise sich um den Frieden bemühen, mit atomaren Bomben und ohne solche Bomben. Die Frage ist nur, welches die bessere Weise ist. Jesus hat die selig gepriesen, die den Frieden schaffen. Aber er hat leider vergessen zu sagen, ob er die mit den Bomben oder die ohne Bomben meint. Da sind wir also aufs Raten angewiesen. Die Kirchen sagen: sowohl als auch. Man sieht: sie wissen auch nichts Genaues. Aber die maßgebenden Politiker wissen es genau. Sie sagen: die Methode ohne Bomben ist falsch, das ist überhaupt keine Methode. Das ist Spinnerei und Illusion. Das ist Utopie. Und die, die Frieden ohne Bomben vertreten, sind von Moskau ferngesteuert. Da habe ich mich geschämt, denn ich neigte auch dazu, so etwas zu denken. Aber nun möchte ich aufhören zu denken. Denn ich will doch nicht von Moskau ferngesteuert sein. Und wenn mir dennoch die schwarzen Gedanken kommen und ich an die Opfer jener ersten Bomben und an die unendlich große Zahl der kommenden Bomben denke und mir die Tränen in die Augen treten wollen, dann dränge ich sie zurück, weil ich Angst habe, noch meine Tränen könnten von Moskau gesteuert sein.

Aber daß die Welt voller Bomben ist, soll uns ja beruhigen. Die Sprengkraft reicht aus, um hochgerechnet 100 Milliarden Menschen umzubringen. Die Frage ist nur, wo kriegen wir so viele Menschen her? Es ist ja inzwischen kein Mangel an Waffen mehr, die Menschheit zu vernichten. Es reicht vielmehr die Menschheit, die vernichtet werden könnte, nicht mehr für die Waffen aus. Statistisch gesprochen klafft die Schere zwischen aktivem und passivem Vernichtungspotential immer weiter auseinander. Allein in der Bundesrepublik lagert laut unserem Herrn Bundeskanzler nach einem deutschen Nachrichtenmagazin ungefähr die Hälfte des amerikanischen Nuklearpotentials. Um der Vernichtung willen brauchen wir also nicht noch weitere Bomben. Aber wir brauchen sie sehr wohl um des Friedens willen, sagen unsere Politiker. Und deswegen müssen wir nachrüsten.

Ich habe gehört, daß auf jeden Menschen in der Welt zur Zeit eine nukleare Vernichtungssprengkraft von vier Tonnen TNT entfällt. Da der sogenannte Ernstfall in Europa stattfindet, entfallen auf jeden von uns hier ein Vielfaches von vier Tonnen. Wir liegen schon pharaonengleich unter Pyramiden von Sprengstoff begraben.  Aber die Rüstungspolitiker in Ost und West bauen diese Pyramiden höher und höher und halten sie für Friedenskathedralen. Sie merken nicht, daß sie jeden Bezug zur Wirklichkeit verloren haben. Sie merken nicht, daß sie Wahnsinnige sind. Es gibt Menschen auf dieser Erde, die hungern und verhungern, aber wir geben ihnen nichts zu essen. Wir stehlen ihnen ihr Brot für unsere Waffen. Wir stehlen ihnen ihr Leben für unseren Supertod. Die Menschen auf dieser Erde sind in die Hände von Unzurechnungsfähigen gefallen. Das ist eine bittere Wahrheit, und ich hoffe, ich habe mich nicht einseitig ausgedrückt.

Ähnlicher Wahnsinn steht uns demnächst mit den Giftgasen ins Haus. Auch hier soll nachgerüstet werden. Dabei sollen allein bei Pirmasens nach westdeutschen Presseberichten Giftgasvorräte liegen, die geeignet sind, die europäische Bevölkerung mehrmals zu vergiften. Und vielleicht ist Pirmasens nicht unser einziges Pirmasens. Aber selbst wenn wir schon eine Reihe davon haben, so brauchen wir doch noch mehr Pirmasense, weil nämlich unser potentieller Gegner uns an Pirmasensen überlegen ist. Wenn wir also auch mit Giftgas nachrüsten, haben wir dasselbe Problem wie bei den nuklearen Waffen: wo finden wir eine entsprechende Menge von Menschen, die wir vergiften können, wo doch bei allem technischen Fortschritt der Mensch ganz altmodisch nur seinen einen Tod hat.

Aber inzwischen ist es vielen Menschen in der Welt immer mehr klar, daß es nicht um Abschreckung, daß es nicht um Friedenssicherung durch solche Abschreckung geht, denn dazu reichen die vorhandenen Abscheulichkeiten längst aus. Es wird immer mehr Menschen klar, daß es um die Möglichkeit einer Kriegsführung und Kriegsgewinnung geht. Wir lesen in der amerikanischen Presse, daß die amerikanische Regierung sich instand setzen will, jeden denkbaren Atomkrieg zu gewinnen. werden freilich einen solchen Krieg nicht mitgewinnen können. Unsere Karten sind zu schlecht gemischt. Die amerikanische Bevölkerung kann zu einem Drittel gerettet werden. Vielleicht sogar zu zwei Dritteln. Wenn es gelingt, schnell genug die Städte zu evakuieren.  Aber wir haben keine Wüste von Nevada zur Hand, jedenfalls nicht in Friedenszeiten. Wenn die Regierung der USA die USA zur Nr. 1 in der Welt machen will, macht sie uns zur Nr. 1 in der Vernichtung. Wogegen wir uns wehren und was wir verhindern wollen, ist der sinnlose Opfertod unseres Volkes für fremden militärischen Größenwahn.

Einige von uns allerdings haben eine Chance, zu überleben. Ich denke da an unsere Regierung. Lassen sie mich eine einfache Frage stellen: warum hat unsere Regierung einen Bunker und die Bevölkerung so gut wie keine? Offenbar ist es erforderlich, daß die Regierung überlebt. Für die Bevölkerung scheint das weniger erforderlich. Vielleicht sagt die Regierung, sie will gerade für die Bevölkerung überleben. Aber, wenn das Volk stirbt, warum will die Regierung leben? Wem will ein Minister, wenn er aus seinem Bunker heraustritt in ein neutronenbomben-verteidigtes Land und sich in seinen intakten Dienstwagen setzt zu seinem toten Chauffeur, wem will ein Minister dann noch ministrieren? Wen will unsere Bunkerregierung, wenn sie aus dem Regierungsbunker aufsteigt, noch regieren? Aber vielleicht gibt es doch noch etwas zu tun. Es sind nämlich noch nicht alle tot in den Häusern. Viele sterben wochenlang. Und es werden viele sein, die um einen Gnadenschuß betteln. Und vielleicht sind die Herren Minister in der Lage, ein Todeskommando zu bilden, um diesem letzten Willen zu entsprechen.

Manchmal kommen mir die Tränen in die Augen ‒ ich sagte das schon. Aber ich denke dann auch: eigentlich sollten die Rüstungspolitiker aus aller Welt, aus Ost und West, zusammenkommen, vielleicht in der Wüste von Nevada. Denn es ist einfacher, Politiker in die Wüste zu schicken als die Bevölkerung. Und sie sollten sich zusammensetzen und über sich und die Welt weinen. Wir aber wollen, und das zu sagen sind wir heute hier, statt einander mit Terror zu bedrohen, statt Überlegenheit zu gewinnen und womöglich Siege zu erringen,

wir wollen den Völkern den Frieden erklären, um nicht miteinander zu sterben, sondern miteinander zu leben.