Der BDM-Keller im Haus meines Vaters – Meine Jugenderinnerungen an die Hitlerzeit

Text

Der BDM-Keller im Hause meines Vaters

Meine Jugenderinnerungen an die Hitlerzeit

Prof. Dr. theol. Uta Ranke-Heinemann

Das Glück meines Lebens begegnete mir 1945, einige Monate nach dem Krieg und zwar auf der Schulbank, als mein geliebter Mann Edmund Ranke (gestorben an dem Unglückstag, dem 11. September 2001), mein Klassenkamerad wurde. Er war fünf Jahre älter als die anderen Jungen in meiner Klasse. Mit ihm will ich meine Erinnerungen beginnen.

1940 wurden alle 10. Klassen (auf dem Gymnasium „Untersekunda“ genannt), also die ca. 16-jährigen, in den Sommerferien zum Ernteeinsatz auf Bauernhöfen eingesetzt, mein Mann auf einem Bauernhof in Pommern. Dort ging er einmal mit einem polnischen Mädchen, einer Zwangsarbeiterin, zum Schwimmen. Das beobachtete ein Bauer und meldete es sofort der Partei. Daraufhin reisten aus Berlin drei SA-Männer an, um den Schüler Ranke wegen „Rassenschande“ zu verhören und gegebenenfalls zu verhaften. Das polnische Mädchen erklärte, um den Schüler zu retten, sie habe an dem Tag das P (= Polen) entgegen den Vorschriften nicht an ihrer Kleidung getragen. Welche Strafe sie dafür erfuhr und was aus ihr wurde, hat mein Mann nie erfahren. Er selbst lebte seitdem in ständiger Angst, nachts von der Gestapo abgeholt zu werden. Darum war er sogar erleichtert, als er schon im Oktober 1941 zum Militär eingezogen wurde. 1941 wurden nämlich, schon ein Jahr eher als in den Jahren davor, alle Schüler der 12. Klasse (= „Unterprima“) eingezogen. Erleichtert war er, weil er dachte, bei der Wehrmacht sei man vor der Gestapo sicher.

Wie wenig das stimmte, zeigt folgendes: Ein Kamerad, ein Zeuge Jehovas, wurde erschossen, weil er sein Gewehr nicht in die Hand nehmen wollte. Mein Mann suchte ihn zu überreden: er brauche doch auf niemanden zu schießen. „Ich mach das doch auch nicht.“ Er solle an seine Frau und seine Kinder denken. „Notfalls könnte ich ja dein Gewehr tragen“. Aber der Zeuge Jehovas blieb bei seiner Verweigerung und wurde erschossen. Er war 43 Jahre alt.

Mein Mann war dann bei fast allen großen Schlachten an der Ost- und an der Westfront beteiligt: Stalingrad, Normandie-Invasion, Falaise-Kesselschlacht. Am 25. Oktober 1944 war einer der schwersten Bombenangriffe auf Essen, dabei kam sein Vater um. Er bekam zwei Tage Fronturlaub, grub am 27. Oktober mit bloßen Händen seinen Vater aus den Trümmern, legte ihn auf eine Karre und fuhr ihn zum Parkfriedhof (wo er nun auch selbst liegt). Dort waren von dem Bombenangriff am 25. Oktober noch tausende Leichen unbegraben aufgestapelt. Er legte seinen Vater in ein Massengrab und fuhr zurück zu seiner Einheit. Anschließend folgten die Schlacht im Hürtgenwald, dann die Ardennenoffensive.

Am 15. April 1945 bei der Kapitulation des Ruhrkessels kam mein Mann in amerikanische Gefangenschaft und in das Schreckenslager Remagen am Rhein. Als eine Bäuerin ihm auf dem Weg dorthin Wasser geben wollte, schlug ihm ein amerikanischer Soldat einen Vorderzahn aus, feuerte dann eine Maschinengewehrsalve hinter seine Hacken und vertrieb die Bäuerin mit dem Gewehrkolben. In Remagen starben viele Gefangene an Unterernährung, Erkältung und Durchfall, denn sie lagen ohne Zeltplanen und ohne Decken – und meinem Mann hatte ein amerikanischer Soldat zu allem Unglück auch noch den Mantel weggenommen – im Regen und Schlamm. Sie gruben sich mit bloßen Händen Erdlöcher, die dann aber voll Wasser liefen. Denn es regnete ununterbrochen. Bei diesem Graben des Erdlochs in Remagen hat mein Mann seinen (einzigen) Ring im Schlamm verloren. Der müßte da jetzt eigentlich noch in der Erde stecken. Nach mißglücktem Fluchtversuch wurden einige Soldaten mit Genickschuß hingerichtet. Die Gefangenen bekamen täglich drei Eßlöffel Pulver, sonst nichts zu Essen.

Als er Ende 1945 mein Klassenkamerad wurde – aus seiner ehemaligen Klasse von 20 Schülern waren nur vier zurückgekommen – reichte bei seinem Militärgürtel das Ende des Gürtels hinten weit über den Rücken, so abgemagert war er. Er wohnte, weil er ja kein zu Hause mehr hatte, bei seinem katholischen Pfarrer. Unter seiner Soldaten-Tarn-Jacke trug er immer einen einzigen grauen Pullover, der sich hinten aufribbelte. Und außer einem grünlichen Tintenstift besaß er nichts.

Ich war das einzige Mädchen des Essener Burggymnasiums und wurde deren erste Abiturientin, weil es seit dem 9. Jahrhundert ein reines Jungengymnasium war und ich nur mit einer Sondergenehmigung des Regierungspräsidenten (weil ich Griechisch lernen wollte) dort zugelassen wurde. Das Gymnasium war nach dem Krieg in Werden untergebracht, weil es in Essen zerstört war. Unser Klassenlehrer wiederholte immer: „Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir“ (non scolae, sed vitae discimus). Darum beschloß ich, fürs Leben zu lernen, bzw. kennenzulernen, und zwar den Klügsten, Witzigsten und Treuesten. Was nicht leicht war bei so vielen sympathischen Jungen, 40 allein in meiner Klasse, vielen hundert auf der Schule. Ich hatte also eine große Auswahl. Nur mein Mann behauptete später, er habe überhaupt keine Auswahl gehabt.

„Heute, 15. März (1937), kommst du nach Hause und sagst, du müßtest ins B.d.M., du hättest aber keine Lust! Als du das einem Kind gesagt hättest, habe das geantwortet: dann bekommst du später keine Stelle. Du erzähltest uns dann, daß in jeder Klasse ein Plakat hing: wir freuen uns aufs B.d.M. ‚Ich gehe nicht gern dahin, wo soviel Reklame gemacht wird‘, sagtest du.“ So schreibt meine Mutter, Hilda Heinemann, in dem 2-bändigen Tagebuch über mich, das sie von meiner Geburt bis zum Beginn meiner Studentenzeit geschrieben hat. Da war ich also 9 Jahre alt. Im April 1938 erwähnt meine Mutter B.d.M noch einmal und schreibt: „Vom B.d.M. habe ich dich erstmal für ein Jahr zurückstellen lassen.“ Meine Mutter schreibt überhaupt nicht, warum, weshalb. Damals brachte man nicht auf Papier, was gewisse Leute nie lesen dürfen. Sie hat als Grund vorgebracht, ich sei zu dünn und darum zu schwach. Was ja auch irgendwie stimmte, jedenfalls war ich wirklich zu dünn.

Der eigentliche Grund,  m e i n  Grund war, daß ich nicht die geringste Lust hatte, weil ich BDM als verlorene Zeit ansah: zweimal in der Woche antreten und sich langweilen müssen. Es ist wirklich wahr, ich grübele und grübele, was haben wir eigentlich gemacht im BDM, als ich nach einem Jahr der Freistellung nicht umhin kam, dorthingehen zu müssen und zwar zweimal in der Woche, mittwochs und samstags? Mein Gehirn ist leer. Es fällt mir nichts mehr ein, außer daß ich mich langweilte. Samstags sind wir irgendwohin marschiert und haben dabei gesungen. Aber mittwochs? Da war auch keine Indoktrination negativer Art, sonst würde ich mich bestimmt erinnern, daß ich irgendwann einmal Einspruch erhoben hätte. Aber ich blieb stumm und langweilte mich. Eine Zeitersparnis war, daß mein Vater für mittwochs unseren Keller dem BDM zur Verfügung stellte. Das war dann der „BDM-Keller“. Das fand ich gut. Ich brauchte also nur noch runterzugehen und hatte so Zeit gewonnen. Näheres über diesen „BDM-Keller“ später.

Meine Eltern haben uns Kindern gegenüber nie Hitler oder etwas in der Art erwähnt. Wenn wir am Mittagstisch oder Abendtisch saßen, hörte ich häufig zwei Sätze, es sind die einzigen Sätze, an die ich mich erinnere, alle anderen Tisch-Gespräche aus der Hitlerzeit habe ich vergessen. Der eine Satz war: „Uta, gib nicht immer Widerworte“, das pflegte mein Vater zu sagen. Daß den anderen Satz, den ich erinnere, nur meine Mutter gesagt haben kann, ist mir erst vor ein paar Tagen klar geworden, wo ich darüber grübele, wer sagte das eigentlich immer? „Don’t speak before the children“ heißt der Satz, den ich natürlich sofort lernte. Mein erstes Englisch sozusagen. Das kann nur meine Mutter gesagt haben und nicht mein Vater, denn mein Vater konnte wenig Englisch, sie hingegen sehr gut – abgesehen davon, daß mein Vater sowieso nicht viel sprach. Später wurde er ja in der Presse „Gustav der Karge“ genannt. (Ich möchte aber einfügen, daß mein karger Vater voll Witz und Selbstironie war. Und seine gelegentlichen Bemerkungen vergesse ich nie: „Die Eltern sollten nicht eher heiraten als bis die Kinder sie ernähren können.“ Oder: „Kindererziehung ist völlig überflüssig, die Kinder werden doch wie die Eltern.“ Oder: „Die Leute sind mir am liebsten, die nichts zu sagen haben und es doch nicht sagen.“ Oder: „Wer sich nicht zu helfen weiß, ist nicht wert, daß er in Verlegenheit kommt.“ Aber diese Sätze stammen wohl nicht aus der schlimmsten Hitler-Zeit). Zurück zu meiner Mutter. Sie kann ihren englischen Standardsatz bei Tisch nur zu jemandem, der zu Gast war, gesagt haben. Vielleicht zu ihrer Schwester, meiner Tante Gertrud Staewen (1894-1987), einer Widerstandskämpferin der Nazizeit, die kurz vor ihrem Tod das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland bekam, weil sie sich ständig in Gefahr gebracht und Juden und Gefangenen geholfen hat.

Übrigens einmal, als der Krieg 1945 zu Ende war, in einer Nacht des Friedens also, hat meine Mutter uns mit ihrem Englisch gerettet. Da waren wir, meine Mutter mit uns vier Kindern, inzwischen nach Winterberg in das Gartenhäuschen meiner blinden Großmutter Hanna Heinemann geflüchtet, das aus einem einzigen Zimmer bestand, und eines Nachts um 12 Uhr schlugen amerikanische Gewehrkolben an die Fenster, und Soldaten riefen: „Fräulein und Schnaps“. Wir schreckten aus dem Schlaf hoch, meine Mutter zog sich einen Mantel über ihr Nachthemd und rief auf Englisch: „Think of your own mother and let me alone with my children.“ (Bitte, denken sie an ihre eigene Mutter und lassen mich mit meinen Kindern in Frieden). Dank dieser Kurzpredigt meines tapferen Mütterchens, gehalten in ihrer Muttersprache, dachten die Soldaten an ihre Mutter und ließen uns unsere Jungfräulichkeit.

November 1938 schreibt meine Mutter in das Tagebuch: „Als der Lehrer euch im Religionsunterricht sagte, die Juden hätten die 10 Gebote nicht gehalten, darum träfe sie jetzt die Strafe, hast du gesagt: Wir sollen doch auch die Feinde lieben. Da bekamst du die Antwort: soweit sind wir noch nicht (er meinte im Text!). Zu Hause sagtest du: er hätte doch lieber schweigen sollen als das Unrecht gutheißen.“ Kinder spüren, was die Eltern denken, und sie denken dann das gleiche, selbst wenn die Eltern nie darüber reden. Aber einmal hat mein Vater auch in Gegenwart von uns Kindern darüber geredet. Am Morgen nach der Kristallnacht, als in Essen die große Synagoge brannte, hatte er auf dem Weg zum Büro an der Ecke zur Semperstraße Herrn Dr. R. getroffen, wie jeden Morgen. Und Herr Dr. R. hatte meinen Vater wie immer begrüßt, aber dann gesagt: „Herr Heinemann, ist das nicht herrlich, die Synagoge brennt“, so ähnlich jedenfalls hat er sich ausgedrückt. Und mein Vater erzählte das und war so empört und sagte, er werde Herrn R. nie wieder grüßen.

Was mit unserem „BDM-Keller“ war, das habe ich erst Jahrzehnte später erfahren, nicht von meinem Vater, sondern aus Biographien über meinen Vater. Und einiges habe ich sogar erst am 24. März 2004 erfahren, also fast 30 Jahre nach dem Tod meines Vaters, und zwar aus einem Vortrag in Essen der jüdischen Journalistin Inge Deutschkron, nämlich dies: daß mein Vater bis zum Ende des Krieges den 50 – 60 immer noch in den Kellern ausgebombter Häuser versteckten Juden Essens-Marken brachte, die von den evangelischen Pfarrern Held, Böttcher und Graeber gesammelt und von Mitgliedern der „Bekennenden Kirche“, also z.B. von meinem Vater, „für bedürftige Gemeindemitglieder“ gespendet worden waren. Das Überleben der versteckten Juden war ja keine Frage des Geldes, sondern der Lebensmittelkarten. Mein Vater war (und hungerte) zu der Zeit allein in Essen, wir Kinder waren mit meiner Mutter geflüchtet. Er half also den Juden in Essen auch noch n a c h dem 17. September 1944, dem Tag, an dem „die letzten Juden“ aus Essen deportiert worden waren und laut Hitler Essen „judenfrei“ war. Die jüdischen Journalistin Deutschkron erwähnt auch folgendes: „Von Gustav Heinemann ist bekannt, daß er einen Orden ablehnte, mit dem die Nazi-Dienststellen führende Mitarbeiter der Rheinischen Stahlwerke ehren wollten. Er tat das mit den Worten: ‚Den nehme ich erst nach dem Endsieg‘.“

Zurück zum „BDM-Keller“. Frau Deutschkron schildert das so: „Eine Zeitlang wurden im Keller des Hauses Heinemann illegale Schriften vervielfältigt und versandtfertig gemacht. Diese ‚Briefe zur Lage‘, auch ‚Grüne Blätter‘ genannt, waren der Gestapo ein Dorn im Auge. Haussuchungen und Verhöre der Redakteure führten dazu, daß die Arbeit an den ‚Grünen Blättern‘ ihren Herstellungsort ständig wechselten. So landeten sie eines Tages im Keller des Hauses Heinemann. Einmal in der Woche traf sich dort zum Spielen und Singen eine BDM-Gruppe, der eine der Töchter Heinemann (Anmerkung: ich) angehörte. Der Vervielfältigunsapparat war in einem Schrank versteckt, zu dem nur der Hausherr den Schlüssel hatte. (Anmerkung: „An den Schrank geht bitte nicht dran, da sind Sachen von Ausgebombten untergebracht,“ hatte mein Vater uns gesagt). Wollten die Hersteller der ‚Blätter‘ den Apparat benutzen, stellten sie am Telefon eine unverfängliche Frage, etwa, ob sie vielleicht am Abend bei Heinemanns ein bißchen Klavierspielen dürften? (Anmerkung: Einer dieser angeblichen Klavierspieler war Pfarrer Disselhoff, aber während er im Keller druckte, spielte meine Mutter oben im Wohnzimmer das Regentropfen-Präludium von Chopin. Jetzt verstehe ich auch, warum sie abends so oft das Regentropfen-Präludium spielte. Als Erkennungsmelodie für Eingeweihte, die am Haus vorbeigingen – und dann reinkamen, um im BDM-Keller zu helfen? Pfarrer Disselhoff ist später im Krieg gefallen). Eine Zeitlang funktionierte das reibungslos. Aber eines Tages fragte eines der Kinder (Anmerkung: ich), was sich eigentlich am Abend im Keller zutrüge. Eine Schulfreundin habe ihr erzählt, daß ihr Vater, ein Funktionär der NSDAP, im Begriff sei, herauszufinden, was im Hause Heinemann vor sich ginge. Der Vervielfältigunsapparat wurde schnellstens an einen anderen Ort gebracht.“

Wie gut, daß eine Klassenkameradin mir das damals sagte und ich es sofort meinen Eltern berichtete, sonst wären meine Eltern verhaftet und wahrscheinlich umgebracht worden, und wir Kinder wären alle im Unglück gelandet. Damals war es ja schon genug, einen bitteren Witz über Hitler zu erzählen, um wegen „Wehrkraftzersetzung“ hingerichtet zu werden. Und mein Vater war doch auf seine trockene Art so witzig.

Unglücklich waren wir damals schon genug. Auf Essen, die „Krupp-Stadt“ und „Waffenschmiede des Reiches“, wurden im 2. Weltkrieg in 272 Luftangriffen 11800 Tonnen Bomben abgeworfen. Die Engländer machten die Nachtangriffe, die Amerikaner die Tagangriffe. Kurz vor dem Ende des Krieges, im März 1945, erlebte Essen den zweitschwersten Angriff mit konventionellen Bomben der Kriegsgeschichte überhaupt. Bei diesem Angriff warfen 1070 Bomber 5000 Tonnen Bomben über der Stadt ab. Abgeworfen wurden auch diesmal, wie üblicherweise, 1. Sprengbomben, 2. Brandbomben, 3. Luftminen. In dieser Reihenfolge. Die Amerikaner hatten nämlich in der Wüste Nevada eine deutsche und eine japanische Stadt aufgebaut. Und so stellten sie fest, daß die deutschen Häuser anders als die japanischen gebaut waren und z.B. feste Dächer aus Dachziegeln haben, bei denen Brandbomben sich nicht genügend auswirken können, weil sie die Dachziegeln nicht durchschlagen. Deswegen wurden über Städten zuerst Sprengbomben abgeworfen, um Dächer und Fenster zu zerstören, danach konnten die Brandbomben sich besser entfalten. Als drittes wurden anschließend Luftminen abgeworfen, die etwas später explodierten, damit sie die Feuerwehr und andere Hilfskräfte behindern. Da Essen durch ständige Luftangriffe nach und nach in öde Trümmer-Flächen verwandelt worden war, kam es nicht zu einem so entsetzlichen Feuersturm wie z.B. in Hamburg und Dresden, wo innerhalb von wenigen Tagen die ganze Stadt in einem einzigen riesigen Feuermeer zerstört wurde. Wegen der ständigen Luftangriffe schliefen wir damals nur im Keller, in unserem sogenannten Luftschutzkeller, der natürlich keinen direkten Treffer ausgehalten hätte.

Über die Bombennacht am 5. März 1943, dem ersten Groß-Angriff auf Essen, der uns endgültig aus Essen vertrieb, schreibt meine Mutter Monate später in mein Tagebuch: „Das Dröhnen des über uns tobenden Krieges war die Entfesselung aller Gewalten der Hölle. In zitternder Todesangst standen wir engumschlungen um Peters (7) Bett. Die Kleinen weinten laut. Barbara (9) rief: ich will nicht allein am Leben bleiben… Christa (14) weinte leise, und du (15) warst ruhig und gefaßt… 40 Minuten dauerte es, in pausenlosem Aufschlagen der Bomben, das Haus bebte und krachte… Peter weinte und flehte: Es soll Frieden sein, ich kann es nicht mehr aushalten… mit jedem Schlag wurde das Haus mehr zertrümmert, der Sturm heulte durch die leeren Fensterhöhlen, die Kellertür schlug mir gegen die Kopf, und ich mußte mich gegen sie stemmen, um ihr noch Halt zu geben…“ Eine Luftmine war im Garten gelandet, wo ein riesiger Krater entstand – das Haus war ein Trümmerfeld.

Daß meine drei jüngeren Geschwisterchen weinten, als um uns alles brannte und klirrte und die Luftmine in den Garten fiel und daß nur ich „ruhig und gefaßt“ gewesen sei, empfinde ich nachträglich als merkwürdig. Wieso habe ich mich dann aber 1999 so aufgeregt und gezittert, als die Bomben auf Belgrad fielen? Und später auf Bagdad? Bei den vielen Luftangriffen auf Essen habe ich mich offenbar nie aufgeregt. Meine Mutter erwähnt jedenfalls, daß das meinen Eltern auffiel. Ich fing nach jedem Luftangriff sofort unbeirrt an, Schutt wegzuräumen. Man spricht heute von „Trümmerfrauen“. Ich war ein unbeirrbares „Trümmer-Teeny“. Aber Jahrzehnte später, als ich PLÖTZLICH IM FERNSEHN DAS GLEICHMÄSSIGE, DROHENDE GERÄUSCH DER SCHWARZEN BOMBER AM HIMMEl, DER DUNKLEN UNHEILSVÖGEL HÖRTE und kurz darauf die hellen, feurigen Explosionen sah, war die Angst da. Und nach so vielen Jahrzehnten ertrug ich es nicht mehr…

Nach dem 5. März 1943 flohen wir, meine Mutter mit uns vier Kindern, nach Langenberg, dort lebten wir zunächst in einer winzigen Wohnung. Um in Ruhe lernen zu können, setzte ich mich immer auf den Dachboden, und zwar in die Ecke, wo keine Wäsche hing. Im Sommer 1943 zogen wir in ein schönes Haus in Langenberg. Es gehörte einem Herrn, der mit seiner Familie geflüchtet war. Aber als er im Sommer 44 mit seiner Familie zurückkam, zog meine Mutter mit meinen beiden kleinen Geschwistern Barbara und Peter nach Winterberg. Christa und ich blieben in Langenberg und wohnten bei der Studienrätin Fräulein (damals sagten wir „Fräulein“) Marianne Rupprecht, die später im April 1945 durch Artilleriefeuer ums Leben kam. Wir Schwestern waren schon 1944 zu meiner Mutter in das Gartenhaus meiner Großmutter in Winterberg gezogen.

Aber da auch in Winterberg keine Schulen mehr in Betrieb waren, fuhren im Herbst 1944 meine Mutter und ich mit dem Fahrrad nach Marburg, weil ich unbedingt weiterlernen wollte und in Marburg die Schulen noch funktionierten. Sie wollte mich zu Professor Rudolf Bultmann (1884-1976) bringen, dem berühmten evangelischen Neutestamentler (Entmythologisierung des Neuen Testaments), bei dem sie 1926 ihr Staatsexamen gemacht hatte. Telefonieren konnte man damals nicht mehr. Also standen wir einfach vor seiner Haustür. Und meine Mutter fragte, ob ich bei ihm wohnen und weiter zur Schule gehen könnte. Und er sagte freundlich: „Wir (= er, seine Frau und seine Töchter Gesine und Heilke) freuen uns auf die kleine Uta“. Und so blieb ich dort, bis der Krieg vorbei war. In die Schule ging ich immer erst ab 10 Uhr, nach der großen Pause, weil ich die ganze Nacht Dostojewski unter der Bettdecke (es war ja Verdunklungspflicht) las. Professor Bultmann übersetzte mit mir Platon, d.h. ich übersetzte, und er erklärte mir die Philosophie Platons. Ich habe eigentlich die ganzen Monate mich mit Griechischlernen beschäftigt, damit ich im Arbeitszimmer des Professors dann fließend übersetzen konnte. Mathematikunterricht gab mir ein Freund und Kollege Bultmanns, Herr Professor Reidemeister, weil ich damals noch schwankte, ob ich lieber Mathematik oder lieber Theologie studieren sollte. Reidemeister riet mir zur Mathematik und Bultmann zur Theologie. Ab und zu vertrat ich Gesine Bultmann, die zwei Jahre älter als ich war, bei Herrn Gerkewitz, einem Kriegsblinden, den Gesine für das Abitur vorbereitete. Das war Gesines „Arbeitsdienst“, den die Mädchen zu Hitlerzeiten nach dem Abitur machten. Abends lasen wir Shakespeare mit verteilten Rollen, der Professor war King Lear oder Macbeth und Frau Bultmann Lady Macbeth und Gesine, Heilke und ich die Prinzessinnen, Töchter oder Zimmermädchen. An BDM kann ich mich überhaupt nicht erinnern, ich war für Hitler und seine Partei in Marburg wohl unauffindbar. Auch in Langenberg erinnere ich mich an kein BDM.

Nach dem Krieg, als Herr Professor Bultmann zu mir sagte: „Uta, der Krieg ist zu Ende, du kannst nach Hause fahren“, fuhr ich mit dem Fahrrad zurück nach Winterberg, übernachtete bei Bauern, denen ich dafür einen Tag den Haushalt machte – wofür sie mir ein Stückchen Speck mitgaben, damit ich nicht mit leeren Händen zu meiner Mutter käme. Auf dem Weg schloß ich mich einem kleinen Trupp deutscher Soldaten an, deswegen mußten wir uns – obwohl der Krieg doch eigentlich zu Ende war – immer im Gebüsch verstecken, weil über uns irgendwelche Tiefflieger heranflogen, die wohl nicht so sehr mich meinten, sondern das Soldatentrüppchen. Als ich in Winterberg ankam, lag am Straßenrand ein toter deutscher Soldat. Das war nun der Friede, die Heimkehr …