Eine Blume auf das Grab meines Mannes

Text

Eine Blume auf das Grab meines Mannes

Ich vermag das Buch nicht zu beschließen, ohne eine Blume auf das Grab meines geliebten Mannes zu legen, der bis zu seinem Tod am 11. September 2001 sechsundfünfzig Jahre lang das Glück meines Lebens war. Am 18. September 1999 sollte ich anlässlich einer Jubiläumsfeier des Essener Burggymnasiums, dessen Ursprünge sich bis ins 9. Jahrhundert zurückverfolgen lassen, ein Grußwort sprechen. Dieses Grußwort an die Festversammlung geriet zu einer Liebeserklärung an meinen Mann und lautete folgendermaßen:

»Anstelle eines Grußwortes möchte ich aus meiner Schulzeit erzählen. Nicht alle erinnern sich gern an ihre Schulzeit. Ich hingegen erinnere mich sehr gern an sie. Das lag wohl daran, dass ich das beherzigte, was unser Klassenlehrer uns einzuprägen suchte, aber davon gleich. Als 1945 nach dem Krieg die Schulen wieder begannen, fuhr ich zum Regierungspräsidenten nach Düsseldorf, sagte, ich hätte seit Kindestagen privat Griechisch- und Lateinunterricht gehabt und könnte doch eigentlich auf dem Essener Burggymnasium mein Abitur machen. So kam ich also mit Sondergenehmigung auf das Burggymnasium, damals in Werden, weil es in Essen zerstört war, und wurde dort das einzige Mädchen der Schule und deren erste Abiturientin.

Unser Klassenlehrer, Herr Busenhagen, wiederholte immer wieder: »Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir« (non scolae, sed vitae discimus). So ging ich also auf Brautschau, in diesem Fall nicht genitivus objectivus, sondern genitivus subjectivus, um fürs Leben zu lernen, bzw. kennen zu lernen. Ich dachte mir, ich möchte den Intelligentesten, Treuesten und Witzigsten mir aussuchen. Was nicht leicht war, denn niemals vorher oder nachher habe ich eine solche Ansammlung so netter Jungen und junger Männer getroffen wie auf dem Burggymnasium, mehrere hundert auf der Schule, 40 in meiner Klasse. Ich hatte also eine große Auswahl. Nur mein Mann behauptete später, er habe überhaupt keine Auswahl gehabt. Ich hatte ihn zuerst überhaupt nicht bemerkt, er saß ganz hinten und sagte nie etwas. Aber eines Tages wurde er aufgerufen, stand auf, nahm das Buch vom Nachbarn und übersetzte das Griechische derart kunstvoll, dass ich dachte, entweder der totale Angeber, der zu Hause stundenlang übt und hier den Anschein erweckt, nicht einmal eine Ausgabe Homers zu besitzen, oder ich muss mich darum kümmern.

Es stellte sich heraus, der Junge hatte gar nichts, der Vater war in den Essener Bombennächten umgekommen, unter seiner Soldaten-Tarn-Jacke trug dieser Edmund Ranke immer einen einzigen Pullover. Der ribbelte sich hinten auf. Ich habe ihn später ganz aufgeribbelt und während des Unterrichts neu gestrickt. Der Junge hatte auch kein Zuhause. Er wohnte bei seinem Pfarrer und besaß außer einem grünlichen Tintenstift gar nichts. Das war genau das, was ich suchte: Feinstes Sprachgefühl war nämlich das, was ich unter Intelligenz verstand. Frauen lieben ja mit den Ohren. Was die Treue anbelangt, so verließ ich mich auf mein Gefühl. Er wollte Mönch werden, das fand ich in diesem Zusammenhang gut. Und was den Witz betrifft, so habe ich ein Leben lang über seine gelegentlichen Bemerkungen lachen müssen. Nur ein Beispiel: vor ein paar Monaten, als ich vor der Bundespräsidentenwahl sagte: »Findest du das nicht komisch, dass die PDS mich einstimmig gewählt hat, obwohl sie mich überhaupt nicht kennen?«, sagte er: »Komisch wäre, wenn sie dich einstimmig wählen, obwohl sie dich kennen.«

Und so setzte ich mich eines Tages neben den Schüler Edmund Ranke. Allerdings wurde ich dann öfter von Herrn Busenhagen wegen Schwätzens von ihm weg gesetzt. Meistens setzte er mich neben jemanden, der ständig schwieg und später Kaplan wurde und auch dann ziemlich still blieb, lieb, aber er sagte eben nichts, Winfried Kulewey. Aber nach einiger Zeit setzte ich mich wieder unauffällig hinten neben Edmund Ranke, und unser Klassenlehrer sagte: »Ach, Fräulein Heinemann, der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme«, bis er mich, beim nächsten Schwätzen, wieder neben Winfried Kulewey setzte.

Beinahe wären wir ganz früh noch mehr getrennt worden, weil unser Deutschlehrer, Dr. Urbanowski, ihm die Reife zum Abitur absprechen wollte. Das kam so: Als nämlich Dr. Urbanowskl die Klasse gefragt hatte, wie die griechische Stadt Akragas in Sizilien heute auf Italienisch heißt, und keiner sich meldete, hatte mein Mann in die Klasse hinein geantwortet: »Agrigento«. Er hatte es nicht für nötig gefunden, sich zu melden. Er dachte, nachdem man vier Jahre Krieg und Kriegsgefangenschaft hinter sich gebracht hat, ist Fingerheben in der Schule überflüssig. Er gehörte zu der Gruppe der Kriegsteilnehmer, die vor ihrem Abitur eingezogen worden waren und war aus dem Jahrgang 1922 einer der vier, die zurückkamen, inzwischen fünf Jahre älter als die meisten in der Klasse. Darüber, ob man in der Schule immer den Finger heben muss oder nicht, geriet er dann mit Dr. Urbanowski derartig in Streit, dass der ihm, wie gesagt, die Reife absprechen wollte. Übrigens, Einsehen auch in ganz anderen Fragen war sowieso ein Schwachpunkt meines Mannes und ist es immer geblieben. Eingesehen hat mein Mann fast nie etwas. Aber ich habe schließlich eingesehen, dass mein Mann eben fast nie etwas einsieht. Damals hatte ich alle Hände voll zu tun, Dr. Urbanowski zu überreden, dass er meinem Verlobten nicht die Reife absprechen sollte. Das Ende vom Lied war, dass er Abitur machen durfte, aber sein Thema ihm umgeschmissen wurde, d. h. er wurde über ganz etwas anderes geprüft. Er machte aber trotzdem von allen Jungen das beste Abitur. Dass ich ein noch besseres machte als er, bezeichnet er als männliche Galanterie.

Meine Zeit auf dem Burggymnasium betrachte ich immer noch als eine schöne und sogar lustige Zeit, obwohl es eine Hungerzeit war. Zu unserer Lebenserhaltung trug die Quäkersuppe bei, die wir täglich erhielten. Gott möge es den Quäkern danken. Und ich möchte an dieser Stelle auch unserem Klassenlehrer, Herrn Busenhagen, danken fur sein goldenes und wahres Motto: »Nicht fur die Schule, sondern fürs Leben lernen wir.« Und schließlich auch noch Herrn Dr. Urbanowski, dass er am Ende meinem Mann die Reife doch nicht abgesprochen hat.«

Mit ihm, meinem Mann, war ich seit meinem 17. Lebensjahr unzertrennlich, und auch sein Tod am 11. September 2001 konnte uns beide nicht scheiden. Er wird zwar nie mehr zu mir kommen, aber ich werde zu ihm kommen. Werde ich das wirklich? Er ist nicht mehr da, um mir das zum tausendsten Mal zu versichern, und so lese ich immer wieder dieses Gedicht von ihm:

»ich brauche nur noch ein geringes,
nur eine kleine weile zeit,
dann wird das schwersein jedes dinges
süßigkeit.

ich brauche nur noch ein paar schmerzen,
ein wenig wehetun,
um mich an gottes hellem herzen
auszuruhn.«

Edmund Ranke

»Es gibt nichts, womit sich meine Gedanken von jeher mehr beschäftigt hätten als mit der Vorstellung des Todes, selbst in der ausgelassensten Zeit meines Lebens.«

Montaigne († 1592), Essays I, 20

Im Anklang an Descartes, der mir viel bedeutet, sage ich also:

»Ich denke,
also bin ich.
Ich liebe Dich,
also bist Du,
Du, mein toter Geliebter.«

»Viele, denen Geliebte (paidikof *) und Frauen und Kinder starben,
gingen bereitwillig in den Tod,
denn sie waren von der Hoffnung getrieben,
dass sie die, nach denen sie so sehr sich sehnten,
nach ihrem Tod wiederfinden
und mit ihnen zusammensein würden.«

Sokrates († 399 v. Chr.), in Platon, Phaidon 68 AB

Kant ist überzeugt von der „Unsterblichkeit der Seele«, von »einer ins Unendliche fortdauernden Existenz» des Menschen,von einem nie endenden »Fortschritt zum Guten«, zur »Heiligkeit«.

Kant, Kritik der praktischen Vernunft 1,2,2,I

*)  gemeint ist der geliebte homosexuelle Lebenspartner