Mein Abschied vom traditionellen Christentum
Es gibt lange Abschiede. Manche dauern ein Leben lang. Zudem sind sie zunächst ganz leise, und man bemerkt sie am Anfang kaum. Ich war ein frommes Kind frommer, geliebter Eltern, und das christliche Hochfest war für mich das Weihnachtsfest. Es war mir eine Art Zaubertor zum Christentum:
Das Christkind in der Krippe, die Hirten auf dem Feld, die singenden Engel, die drei Könige mit ihren Gaben — goldene Traumbilder geheimnisvoll verklärter Tage einer fernen Vergangenheit, die für mich ganz nahe wurde. Die goldene Geschichte hatte jedoch kein Happyend. Denn dieses Kind sollte am Ende einen schlimmen Tod sterben, und es sollte diesen Tod für mich sterben — wurde mir gesagt. Dass aus einer Zaubergeschichte eine Horrorgeschichte wurde, hat mich schon als Kind bekümmert. Und nicht zuletzt das war ein Grund meiner späteren Abwendung vom gewohnten Christentum.
Jesus ist für die Christen nur durch seinen Tod wichtig. Sein Leben tritt für sie in den Hintergrund. Wenn die Christen, statt den Tod Jesu zu zelebrieren, sein Leben befolgten, wäre das besser. Aber das christliche Glaubensbekenntnis. d. h. die offizielle Kurzfassung des Christentums, auch Credo (= Ich glaube) genannt, sagt über Jesu Leben nichts:
Geboren von der Jungfrau Maria, gekreuzigt unter Pontius Pilatus. Jesus hätte genauso gut bei Maria in der Küche sitzen und Kreuzworträtsel lösen können, für das Credo der Christen spielt keine Rolle, was er zu Lebzeiten sagte oder tat. Nur eines hätte Jesus nicht gedurft: zu Hause friedlich sterben, denn wichtig ist den Christen nur die Art seines Todes, und zwar sein blutiger und gewaltsamer Tod. Das Christentum hat an die Stelle des Wortes Jesu eine Henkertheologie gesetzt und verherrlicht einen Galgen.
Aber Jesus ist geboren, um zu leben. Und er hat gelebt.Und seine Worte haben die Menschen in großen Massen angezogen: Josephus berichtet, wie wir sahen (S. 53 f.), dass Herodes Antipas angesichts der großen Menschenscharen, die zu Johannes dem Täufer strömten, fürchtete, Johannes werde das Volk zum Aufruhr treiben und ließ ihn deswegen hinrichten (Altertümer 18,5,2). Was im Fall Johannes des Täufers eintrat. ist ähnlich bei Jesus eingetreten: Die Menschenscharen, die Jesus in noch größerem Maße zuströmten als seinerzeit dem Täufer, versetzten die Römer in Unruhe, die Dinge könnten zu einem Aufstand eskalieren. Mit Befürchtung sahen sie die Menschenmassen. Was er predigte, interessierte sie nicht.
Die Christen jedoch sollten sich dafür interessieren, was Jesus damals sagte, auch wenn sie das nur noch schwer feststellen können, weil sie ihm vieles nachträglich in den Mund gelegt und anschließend ihn mit Gold übermalt haben. Es scheint mir, übrigens mit Rudolf Bultmann, dass es vor allem zwei Dinge sind, die Jesus lehrte: die Absage an die Vergeltung und das Gebot der Feindesliebe. Bultmann hat versucht. das »Charakteristische der Verkündigung Jesu zu finden«. Und er führt einige wenige Worte auf, von denen man annehmen kann, dass sie wirklich von Jesus selbst stammen, denn »irgendwelche Zuversicht, eins der Logien (Worte) Jesus zuzuschreiben, wird man nur in wenigen Fällen aufbringen«. Unter diesen wenigen Worten, die er auf Jesus selbst zurückführt, sind vor allem die Worte Jesu in der Bergpredigt von der Wiedervergeltung (Mt 5, 39b-41) und der Feindesliebe (Mt 5, 44-48) »Diese Worte enthalten etwas Charakteristisches, Neues, was über Volksweisheit und Volksfrömmigkeit hinausgeht und doch ebenso wenig spezifisch schriftgelehrt-rabbinisch oder jüdisch-apokalyptisch ist. Also, wenn irgendwo, so muss hier das Charakteristische der Verkündigung Jesu zu finden sein« (Geschichte der synoptischen Tradition, S. 110).
Die Absage an die Vergeltung und die Feindesliebe, das also hätte die offizielle Kurzfassung des Christentums sein sollen, nicht ein Glaubensbekenntnis, sondern eine Lebensregel.
Wenn die Kirchen den Menschen Jahre nur die zwei Worte: »Keinen Krieg« oder »keine Bomben« ins Herz geschrieben hätten (stattdessen gab es nirgends so viele Kriege wie bei den Christen; vgl. Montesquieu, Lettres per-sanes 29), das wäre der Weg zur Erlösung, d. h. zur Herauslösung aus dem Teufelskreis der Vergeltungen gewesen, aber nie als das Blut. Das kann jeder leicht begreifen, der abends das Fernsehen einschaltet und dem dann das Blut über den Wohnzimmerteppich läuft aus allen Himmelsrichtungen der Welt und aus allen Städten und Dörfern, in denen Jesus damals seine Worte in den Wind redete.
Und so bin ich fortgegangen, fort von Jungfraumutter und Henkervater, von dem Gott mit den blutigen Händen, dem Erwürger der Erstgeborenen, der von Abraham das Opfer Isaaks verlangte und später seinen eigenen erstgeborenen und einzigen Sohn für uns opferte. Ich wandte mich ab von den Theologen, die meine Wissenslücken nur ihrer Verstandesfeindlichkeit und ihren grausamen Märchen füllten und glaubte ihnen nicht mehr. Und ihr Buch, die Bibel, war mir nicht mehr Gottes Wort. Es wurde Menschenwort und tröstete mich nicht.
Aber wohin sollte ich gehen? Haben die Buddhisten Recht, wenn sie sich wünschen, befreit zu sein von der Illusion eines bleibenden Ich? Aber das wäre in meinen Augen schwarze Melancholie, die totale Traurigkeit vor dem Verlöschen und dem ewigen Nichts. Denn was nützt mir alle Seelenwanderung, wenn alle jemals Geliebten vergessen sind, weil ich mich an nichts mehr erinnern kann?
Und die Ruhelosigkeit meines Verstandes und Herzens fragte und fragte immerfort. Vielleicht würden die Heiden mich verstehen? Aber sie sind heute kaum anzutreffen. Sekten, Gesundbeter, Abergläubige fand ich überall oder jene Aufgeklärten und Resignierten, von denen ich mich nicht verstanden fühle, weil sie mit Gleichmut ihrem Ende ins Auge blicken. Zu ihnen also kann ich auch nicht flüchten.
Ich müsste jemanden finden, der gleichermaßen meinen Verstand und meine Sehnsucht befriedigt, jemanden, der mir klar macht, dass meine Sehnsucht nach einem ewigen, glücklichen Leben jenseits des Todes, nach einem Wiedersehen mit den Vorausgegangenen geliebten Vermissten, mit meinem Mann, mit meiner Mutter, nicht auf leerem Wunschdenken beruht, auf meinem Sich-Nicht -Abfinden-Wollen.
Aber wieso ist eigentlich Wunschdenken gleich leeres Denken? Dann müsste ja das, was niemand wünscht, schon deshalb wahrscheinlicher sein, weil es niemand wünscht. In Wirklichkeit aber ist doch das Schicksal der Toten unabhängig sowohl von ihrem Wünschen als auch von ihrem Nicht-Wünschen. Und die Frage bleibt: Kann nicht der Wunsch der vielen darauf hindeuten, dass eine innere Programmierung besteht, ein vorauseilendes Ahnen des Kommenden, des auf sie Zukommenden?
Ich flüchtete mich schließlich zu den Zweiflern, weil mir der Zweifel immer noch am Sichersten schien und ich mich unter den Zweiflern noch am wohlsten fühlte. Und unter ihnen fand ich einige, die an einem doch nicht zweifeln konnten: dass alles, was ist, eine Ursache hat, weil von nichts nichts kommt.
Die Griechen nannten die Welt »Kosmos«. Das heißt: Schönheit und Ordnung. (Daher unser Wort »Kosmetik«.) Der Urheber des Kosmos hat allem, was existiert, seinen Stempel eingedrückt. Und ich fühlte mich bereit, mit dem Genie unter den Zweiflern, mit dem Philosophen Descartes (gest. 1650) also, angesichts der Vollkommenheit des Urhebers zu sprechen: »Ich möchte einen Augenblick verweilen bei der Betrachtung dieses vollkommenen Gottes. Ich möchte bedenken, bewundern und anbeten die unvergleichliche Schönheit dieses unendlichen Lichts, soweit es die Fassungskraft meines Geistes erlaubt, der vor diesem Licht geblendet steht« (Méditations métaphysiques, III). Descartes verlor 1640 sein einziges Kind, Francine. Sie war fünf Jahre alt. Er bezeichnete ihren Tod als den »größten Schmerz« seines Lebens. Oktober 1642 schrieb er an Constantin Huygens, Vater des berühmten Astronomen Christian Huygens, dass die Toten, die von uns gingen, hinübergehen zu einem besseren Leben. Wir Menschen seien geboren »für viel größere Freuden (plaisirs!) und ein viel größeres Glück, als wir sie auf dieser Erde erleben können … wir werden die Toten dereinst wieder finden, und zwar mit der Erinnerung an das Vergangene, denn in uns befindet sich ein intellektuelles Gedächtnis, das ganz zweifellos unabhängig von unserem Körper ist«. Er sei von diesem Leben nach dem Tod »überzeugt durch natürliche und ganz offensichtliche Gründe«. Descartes benutzt hier für überzeugen nicht das Wort convaincre von lat. vincere = (mit schlagendem Beweis) besiegen, sondern persuader von lat. suavis = süß, lieblich, sweet. Liebe lässt sich nur sanft beweisen.
Was die viel größeren Freuden und das Glück betrifft, von denen Descartes hier spricht, so las ich neulich in einer Todesanzeige über den Trennungsschmerz:
»Gott aber will, dass wir uns wieder finden,
reicher um alles Verlorene
und vermehrt um jenen unendlichen Schmerz.«
Rainer Maria Rilke
Auch der deutsche Dichter Jean Paul, dessen Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei, 1797 geschrieben, zu den Perlen der Weltliteratur gehört (dieser sein Albtraum, es gäbe keinen Gott, aus dem er dann erwachte und wieder glücklich war, dass es doch einen Gott gibt), auch Jean Paul war ein von den Theologen Enttäuschter. Er war der Sohn eines evangelischen Pfarrers. Er studierte Theologie und brach das Studium nach kurzer Zeit ab. Er wandte sich später gegen die, wie er sie nennt, »zwei Erbärmlichkeiten des Lebens … wovon die erste ist, dass der begrabene Körper die Fantasie so sehr hinabzieht und drückt, dass sie den Geist gar nicht lebendig wieder aus dem Sarg bringen kann, sondern unten eingesperrt lässt, die zweite Erbärmlichkeit ist die hergeerbte tausendjährige Enge der theologischen An- und Aussichten, durch welche das Bestimmte und Lebendige unserer Sehnsucht sich in Unbestimmtes und doch Einengendes jüdisch-christlicher Lehre verwandelt«.
»Einengend« für unsere Sehnsucht finde ich, um das hier kurz einzufügen, vor allem dies, dass neben Himmel und Erde, die Gott erschuf, die jüdisch-christliche Lehre eine Hölle hinzugedichtet hat. Das erinnert mich an meinen evangelischen Katechismus, bei dem mich als Kind immer eine leise Panik erfasste gleich bei der allerersten Frage:
»Frage 1: Warum bist du ein Christ?
Antwort: Darum, dass ich getauft bin und glaube an meinen lieben Herrn Jesus Christus. Markus 16, 16: Jesus sagt: Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden, wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.«
Die, weil sie nicht glaubten, Verdammten bekümmerten mich. Inzwischen habe ich mich mit ihnen solidarisiert, und die beiden Grundpfeiler des Protestantismus, die Bibel und der Glaube, sind mir zusammengestürzt. Aus der Triade: Glaube, Hoffnung, Liebe ist der Glaube von mir gegangen. Aber Hoffnung und Liebe sind bei mir geblieben.
Zurück zu Jean Paul. Er sagt weiter: »Es ist, als hätten die Menschen gar nicht den Mut, sich recht lebhaft als unsterblich zu denken, sonst genössen sie einen anderen Himmel auf Erden als sie haben, nämlich den echten — die Umarmung von lauter Geliebten, die ewig an ihrem Herzen bleiben und wachsen — die leichtere Ertragung der Erdenwunden — das frohere Anschauen des Alters und des Todes als des Abendrots und des Mondscheins des nächsten Morgenlichts. Und der alte, von den wiederkäuten Neuigkeiten der Erde übersättigte Mensch geht und stirbt neuen Wundem entgegen.«
(Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele, welche Schrift man ihm, als er 1825 in Bayreuth starb, auf seinen Sarg legte).
Für mich sind diese Satze Jean Pauls zur goldenen Verhaltensregel geworden. Hingegen die Worte Glauben, Glaubensbekenntnis. Glaubensgehorsam, Glaubensakt (vgl. Glaubensakt = Autodafé = Ketzerverbrennung, siehe S. 95 dieses Buches) habe ich aus meinem Wortschatz gestrichen wegen der Verstandesvergewaltigung und wegen der Ketzerverbrennung, die die Christen mit diesen Worten betrieben haben. Außerdem, warum soll ich an Gott glauben, wenn ich weiß, dass es Gott gibt? Und so habe ich also an Stelle des christlichen Glaubensbekenntnisses, von dem mir nur der Anfang und der Schluss verblieb (Gott und Ewiges Leben), allenfalls
Mein siebenfaches negatives Glaubensbekenntnis:
1) Die Bibel ist nicht Gottes-, sondern Menschenwort.
2) Dass Gott in drei Personen existiert, ist menschlicher Phantasie entsprungen.
3) Jesus ist Mensch und nicht Gott.
4) Maria ist Jesu Mutter und nicht Gottesmutter.
5) Gott hat Himmel und Erde geschaffen, die Hölle haben die Menschen hinzuerfunden.
6) Es gibt weder Erbsünde noch Teufel.
7) Eine blutige Erlösung am Kreuz ist eine heidnische Menschenopfereligion nach religiösem Steinzeitmuster.
Und jetzt das Positive:
Gott, der Urheber des Universums, hat allen Menschen – außer der goldenen Verhaltensregel, die da lautet: »Menschlichkeit und Wohlwollen« humanity and benevolence, David Hume († 1776) – die Sehnsucht nach einem glücklichen Leben jenseits des Todes ins Herz geschrieben.
Aber vor dem Positiven, das mir verblieben ist, noch eine Frage an die Christen und ihren Glauben und ihr Glaubensbekenntnis: Sie sagen mit Recht, dass Gott, der Urheber des Universums, sich in der Schöpfung offenbart, weil man aus dem Geschaffenen auf den Schöpfer schließen kann. So steht es auch in ihrer Bibel, und zwar Weisheit Salomonis Kapitel 13 bis 15 und Römerbrief Kapitel 1.19 f.: »das, was man von Gott erkennen kann … wird seit Erschaffung der Welt an den Werken der Schöpfung durch das Denken wahrgenommen.«
Aber um an Gott glauben zu können, verlangen nun die Christen vom Gott der Schönheit und Ordnung eine zusätzliche Offenbarung, eine, wie sie sie nennen »übernatürliche Offenbarung«, dass er nämlich seine Naturgesetze durch Wunder durchbricht, dass durch eine Jungfrau ein Gottmensch empfangen und geboren wird, der über Wasser läuft, Wasser in Wein verwandelt, nach seinem Tod lebendig aus seinem Grab heraussteigt und anschließend mit seinen Jüngern isst und trinkt. Sie verlangen also vom Gott der Ordnung eine gelegentliche Aufhebung der Ordnung und erkennen somit Gott mal an der Ordnung, mal gerade an der Unordnung. Und diese Unordnung ist dann die Grundlage ihres Glaubens und ihrer frohen Botschaft an die Welt, eine Botschaft, die nie froh war, sondern eine Vergewaltigung des gottgeschaffenen Verstandes und die für einen großen Teil der Menschheit, den vorchristlichen nämlich, sowieso zu spät kommt. Der Gott der Christen schickt seine Botschaft offenbar erst dann ab, wenn die meisten Empfänger verstorben sind. Mein Verstand sträubt sich gegen diese absurde Gedankenlosigkeit, mit der die Christen durch ihre Mirakel-Offenbarung und ihre Wundergläubigkeit die wirkliche Offenbarung Gottes, nämlich die für alle Menschen aller Zeiten gültige, verdunkeln und überschreiben und mit der sie viele Menschen daran hindern, Gott zu erkennen, weil die eine Offenbarung Gottes die andere Offenbarung Gottes widerlegt.»Das. was man von Gott erkennen kann (griechisch: to gnoston toll theou), … wird seit Erschaffung der Welt an den Werken der Schöpfung durch das Denken wahrgenommen«, sagen also die Christen selbst, weil es in ihrer Bibel steht. Aber sie halten sich nicht daran.
Den Christen genügt solche Gotteserkenntnis nicht. Sie wollen mehr von Gott erkennen, als man von Gott erkennen kann. Sie wollen nicht die gottgegebenen Naturgesetze denkend wahrnehmen, sondern an Wunder glauben. Darum errichten sie ihr christliches Märchengebäude und schauen sogar hinter das Universum direkt auf Gott selbst, ja sogar in Gott hinein (Dreifaltigkeit). Jedenfalls behaupten sie das zu können, dank ihrer christlichen Sonderoffenbarung.
Nun darf zwar jeder Mensch so viel phantasieren wie er will. Aber er darf nicht sein Phantombild Gottes allen anderen Menschen aufdrängen. Als ich ein Kind war, schenkte mir meine Großmutter ein »Wunderknäuel». So nannte man damals ein großes Wollknäuel, aus dem, je fleißiger man strickte, desto mehr kleine Spielsachen herausfielen, ganz naturgesetzgemäß, genau wie aus dem Welten-Knäuel sich ständig neue Dinge entwirren, wenn man das Universum genauer studiert. Das Vorhandensein des Welten-Knäuels jedoch, d. h. das Vorhandensein des Universums, lässt sich durch kein Naturgesetz erklären und an keinem Faden zurückverfolgen. Denn Naturgesetz, das Gott allem, was existiert, einprogrammiert hat, gemäß dem alles funktioniert und gemäß dem Gott das Universum hält und in Gang hält, kann nicht erklären, wieso das Universum überhaupt da ist, wieso nicht nichts da ist. Unerklärlich, und zwar ein Wunder im eigentlichen Sinn, ist das »Wunder der Schöpfung« (miracle de la création, Descartes, Discours de la méthode 5). Dem Einwand, die Welt sei keine Schöpfung Gottes, sondern bestehe in völliger Unabhängigkeit von Ewigkeit her, entgegnet Descartes: »Ich sehe nicht, wieso das Geschaffene nicht von Ewigkeit her von Gott geschaffen sein kann. Denn da Gott von Ewigkeit her seine Macht hat, kann er sie auch von Ewigkeit her ausgeübt haben» (Gespräch mit Burman). Für uns, die wir, solange wir leben immer nur das Universum, aber nie Gott sehen können, ist das Universum ein riesiges Knäuel, das wir immer mehr abwickeln, ohne in diesem kurzen Leben auch nur an das Ende des Fadens, geschweige denn über den Faden hinaus zu gelangen. Gott selbst können wir nicht ergründen. Er entzieht sich unserer Wissenschaft.
Das Einzige, das Positive, was mir vom Christentum geblieben ist – und für dieses Einzige bin ich meinen Eltern und dem Christentum dankbar, denn es ist das Einzige, was mich theologisch überhaupt je interessiert hat, insofern ist mir, obwohl ich last alles bestreite, das Wichtigste, das für mich Wichtigste, verblieben – dieses Einzige also ist die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit den geliebten Toten.
Aber ich kann genauso gut sagen. dass ich diese Hoffnung aus Ciceros Schriften Über das Alter (de senectute XIX – XXIII) und aus seinen Tusculanischen Gesprächen (I, 41 ) übernommen habe, die er beide 45 v. Chr., kurz nach dem Tod seiner 33-jährigen geliebten Tochter Tullia, nicht lange vor seinem eigenen Tod. d. h. seiner Ermordung, geschrieben hat. Tullia war im Februar 45 v.Chr. auf Ciceros Landgut Tusculanum in der Nähe von Rom gestorben. Cicero verließ darauf Tusculanum und wollte nie mehr in diese Räume zurückkehren. Im Mai 45 v.Chr. jedoch kehrte er dorthin zurück und schrieb dort die erwähnten Werke. Oder ich kann sagen, dass ich diese Hoffnung von den Juden um 200 v. Chr. übernahm und mit den Juden von den Persern (vgl. Kapitel 17 dieses Buches, Die Hölle). – Oder ich übernahm sie aus den letzten Worten des Sokrates, der, bevor er den Giftbecher 399 v. Chr. trank, von den »†«„vielen Männern und Frauen»†«“ sprach, von denen er einige namentlich nennt, die im Jenseits zu treffen er als eine »unbeschreibliche Glückseligkeit« bezeichnet (Platon, Apologie des Sokrates 40E – 41C). – Oder ich übernahm sie von dem Perserkönig Kyros († 529 v. Chr.), berühmt im ganzen Altertum wegen seiner Toleranz gegenüber allen Religionen aller ihm unterworfenen Volker, der laut Xenophon († ca. 354 v. Chr.) kurz vor seinem Tod zu seinen Söhnen sagte: »Glaubt nicht, dass ich, wenn ich von euch geschieden bin, nirgends oder gar nicht mehr sein werde …« Xenophons Buch über Kyros (Cyropädie) wurde im Altertum viel gelesen. Cicero zitierte aus der Rede des sterbenden Kyros (de senectute XXII). und Caesar las sie noch kurz vor seiner Ermordung im Jahr 44 v. Chr. – Oder ich übernahm diese Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod von den Ägyptern um 2000 v. Chr., den Ägyptern, diesem unter allen Völkern einzigartigen Volk der Todesgedanken, Grabkammern und Jenseitshoffnung, einer Jenseitshoffnung nicht nur für die Pharaonen, sondern für alle. – Oder ich übernahm sie von den Chinesen und anderen großen Völkern Ostasiens und ihrer Verehrung der Eltern, Großeltern und aller Vorfahren. – Oder ich kann auch sagen: Gott, der Urheber des Universums, hat von Anfang an allen Menschen die Ewigkeit ins Herz gelegt als eine Hoffnung, die tief in jedes Menschen Herz lebt, auch wenn ein Gebirge von Hoffnungslosigkeit sich darüber zusammengefaltet haben mag.
Das Christentum ist übrigens in Ostasien mit den dortigen Beerdigungsriten und den dann sich spiegelnden Jenseitsvorstellungen, also mit dem so genannten »Ahnenkult«, d. h. mit der für mich persönlich wichtigen Verehrung oder Liebe zu Eltern und Großeltern und Ahnen in schweren Konflikt geraten, ein Konflikt, an dem die inhumane Seite des Christentums deutlich wird und der meinen Abschied vom Christentum beeinflusst hat.
Das Christentum schreibt nämlich allen Völkern genau vor, wie und wie auf keinen Fall sie ihre geliebten Verstorbenen zu verehren haben. Schon die Worte »Ahnenkult« und »Ahnenverehrung« haben im europäischen Kulturkreis einen Anstrich von Verblichenheit, ja Aberglauben. Zwar sind auch in Europa des Menschen EItern seine Ahnen, aber man spricht bei der Trauer um die toten Eltern nicht von Ahnenverehrung. Dass es sich bei der Ahnenverehrung der Chinesen um eine Form der Familientreue, um einen besonderen Familiensinn handelt, ist hierzulande zu wenig bekannt. Das gesamte politische und soziale Leben der Chinesen basiert in viel höherem Maße als im Westen auf der Familie. Bei den Chinesen gilt gemäß konfuzianischer Lehre die Liebe der Kinder zu ihren Eltern als das höchste moralische Gebot. Ein anonymer europäischer Beobachter der chinesischen Verhältnisse schreibt 1763: »Es gibt kein Land auf dieser Erde. in dem die Väter und die Mütter so geachtet werden sowohl während ihres Lebens als auch nach ihrem Tod wie in China … Die meisten, ja eigentlich alle Chinesen verehren die Seelen ihrer verstorbenen Vorfahren. Sie glauben, dass die Seelen der verstorbenen Ahnen gegenwärtig sind und aufmerksam die Geschicke der Lebenden verfolgen. Und diese Überzeugung bewirkt bei den Chinesen im Allgemeinen ein derartiges Hemmnis gegen die Laster und einen derartigen Ansporn für die Tugend wie alle Moralbücher ihrer Philosophen zusammen« (Histoire Universelle, Hrsg. Arkstée et Merkus, Bd. 20, 1763, S. 80 und 90). Konfuzius († 479 v. Chr.) hat es zwar abgelehnt, irgendwelche Fragen über das Leben nach dem Tod zu erörtern. »Während du über das Leben nicht Bescheid weißt, wie willst du über den Tod Bescheid wissen?«, pflegte er auf solche Fragen zu antworten. Aber indem er den Ahnenkult übernahm und festigte, hat er indirekt ein zukünftiges Leben bejaht. Das Christentum also geriet, wie gesagt, mit dem chinesischen Ahnenkult in Konflikt, und zwar aus zwei Gründen.
Erstens, weil es infolge seiner Intoleranz geneigt war, fast alle Ungetauften und Ungläubigen und Heiden, also z. B. die toten Eltern und Großeltern usw. der Chinesen in die Hölle zu verdammen, wobei sie sich auf Augustinus († 430) beriefen, den für Katholiken und Protestanten maßgebenden Kirchenvater, der seinerseits sich auf das Neue Testament berief, z. B. auf die vorhin erwähnte Stelle Markus 16,16. Jesus sagt: »Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden, wer aber nicht glaubt. der wird verdammt werden.« Dass Jesus das gar nicht gesagt hat, vielmehr diese Worte im später angefügten, unechten Markus-Schluss (Mk 16,9-20) stehen, stört die Christen kaum. Papst Johannes Paul II. jedenfalls schreibt in seinem Neuen Weltkatechismus wie schon erwähnt: »Die Kirche kennt kein anderes Mittel als die Taufe, um den Eintritt in die ewige Seligkeit sicherzustellen« (Nr. 1257). Diejenigen Chinesen also, die ihren Eintritt in die ewige Seligkeit »sicherstellen« wollen – allerdings nicht so sehr, um dort ihre verstorbenen Eltern und Ahnen zu treffen, die ja alle ungetauft verstarben – die lassen sich sicherheitshalber taufen.
Der zweite Grund betrifft speziell die katholischen Missionare. An die Stelle des Ahnenkults ist bei ihnen der Heiligenkult getreten, und die Heiligen sind fast ausschließlich jungfräulich und somit nicht Ahnen. Priestern, Mönchen und Nonnen ist jeglicher Ahnenkult fremd, denn sie betrachten es als besonders gottwohlgefällig, dass mit ihnen eine Kette der Ahnen abbricht und zu Ende geht, und sie setzen alles daran, auf keinen Fall eine Familie zu gründen, hüten sich vielmehr davor wie vor ihrem schwersten Fehltritt, nicht zuletzt mit Berufung auf Jesu Wort: »Wenn jemand zu mir kommt und nicht seinen Vater und seine Mutter und sein Weib und seine Kinder und seine Brüder und seine Schwestern … hasst, kann er nicht mein Jünger sein«. (Lk 14,26). Es handelt sich hier um einen jener ehe- und familienfeindlichen Sprüche, die Jesus in den Mund geschoben wurden, ursprünglich aber von der Qumransekte stammen (vgl. Kapitel zu Jesus und die Schriftrollen vom Toten Meer). In der katholischen Kirche mit ihrem Zölibatswahn, ihrer Sexualfeindlichkeit, ihrer Verehrung von lauter jungfräulichen Heiligen, deren größte Heilige sogar als Mutter noch jungfräulich blieb, haben diese familienfeindlichen Sprüche eine fortdauernde Gefolgschaft gefunden.
Die »Heilige Familie« des Papstes besteht aus drei Singles eigener Art: einer Jungfrau, einem Mann, der nicht der Vater ihres Kindes ist, und einem Eingeborenen, dessen jüngere Geschwister, nämlich vier namentlich bekannte Brüder und mehrere nicht namentlich bekannte Schwestern (Mk 6 und Mt 13), sämtlich theologisch abgetrieben wurden, weggesprayt mit einem antisexuellen Insektizid.
Die chinesische Verehrung der Ahnen wurde von katholischen Missionaren und Päpsten jahrhundertelang als »Götzendienst« verfemt im so genannten »Ritenstreit«. Ahnentafeln, d. h. Tafeln mit Namen oder Bildern von Ahnen, wurden als »Götzenbilder« bezeichnet und verboten. Verbeugungen vor einem Sarg mussten unterbleiben, allenfalls »etwas zur Seite« geschehen, damit sie nicht dem Toten galten und Götzendienst bedeutet hatten. Im Laufe dieses Ritenstreits vertrieben die Chinesen 1724 die katholischen Missionare aus China. Der französische Adelige, Jesuit und China-Missionar Joseph-Anne-Marie de Moyriac de Mailla († 1748 in Peking), hervorragender Kenner der Lehren des Konfuzius und der chinesischen Kultur und Wissenschaft und vergeblich um Verständnis für die chinesische Ahnenverehrung bemüht, schreibt in einem Brief vom 16. Oktober 1724 über das Scheitern der China-Mission, dass die Chinesen das Christentum ablehnen »wegen seiner Empfehlung der Jungfräulichkeit und seiner Vernachlässigung der Ahnenverehrung«. Im Verlauf der Vertreibungen der Missionare warf während einer Audienz im Jahr 1732 Kaiser Yong-tsching den christlichen Missionaren vor, sie ehrten die Ahnen nicht, und »eine solche Gottlosigkeit könne nicht geduldet werden« (Ludwig v. Pastor, Geschichte der Päpste, Bd. XV. 1930. S. 729). Der chinesische Ritenstreit war eine Form des religiösen Bildersturms. Immer wieder haben Christen in ihrem Eifer für Gott, den Unsichtbaren und Eifersüchtigen – gestützt auf das Bibelwort »Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden ist. Bete sie nicht an, denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott …« (2. Mose 20) -, die Bilder und die Statuen und möglichst auch die Erinnerungen zerstört, die anderen Menschen lieb und teuer waren. Die evangelische China-Mission begann übrigens erst 1807, und in diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass auch die evangelischen, vor allem die reformierten (auf Calvin fußenden) Missionare dem Ahnenkult der Chinesen und den chinesischen Beerdigungsriten ähnlich unfreundlich gegenüberstehen wie die katholischen. Für die reformierten Protestanten spielt nämlich dieses alttestamentliche Bilderverbot eine ganz besondere Rolle. Sie zählen es als eigenes Zweites Gebot innerhalb der Zehn Gebote und haben, vor allem während der Reformationszeit, auch auch den gesamten Heiligenkult der Katholiken als »Götzendienst« bezeichnet und viele Heiligenbilder zertrümmert.
Was schließlich die Chinesen anbelangt, so ist und bleibt für sie manches christliche Gedankengut ein Horror, z B. dies: »Jesus sprach zu einem: Folge mir nach! Der antwortete: Erlaube mir, zuvor hinzugehen und meinen Vater zu begraben. Da sprach er zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben« (Lk 9,59 f.; Mt 8,21-23). Das ist nicht nur fur chinesische, sondern auch für indische und für viele ostasiatische Ohren eine unvorstellbar unmenschliche Forderung, ein Schlag ins Gesicht nicht nur der konfuzianischen Kultur. So viel zum Konflikt des Christentums mit dem chinesischen Ahnenkult, zur Intoleranz der Christen gegenüber einer humaneren Jenseitshoffnung.
Statt nur der Bibel zu folgen, die Menschenwort ist, zwar schönes und wahres Menschenwort oft, aber oft auch falsches und schreckliches, sollte man das gesamte Buch des Universums aufschlagen und dieses Buch des Universums zu entziffern suchen. Man sollte den Spuren Gottes in der Schönheit der Welt nachsinnen und der Ewigkeit im Herzen aller Menschen aller Völker, um zu verstehen, woher der Mensch kommt und wohin der Mensch geht.
Die Christen machen sich kaum klar, dass die Rede von Gott, der das Universum schuf und der sich um jeden einzelnen kümmert, lange vor dem Christentum und außerhalb der Bibel, z. B. von Sokrates, geäußert wurde und dass auch Sokrates nichts Neues sagte, sondern dass er die Menschen nur zum Nachdenken brachte über das, was sie schon wussten, zum Hinsehen auf das, was sie schon vorher sahen, weswegen man ja auch heute noch von der »Hebammen-Methode« des Sokrates spricht, weil er nur hervorhob, was vorher schon da war. Und Sokrates wiederum übernahm viele Gedanken von Anaxagoras († 428 v. Chr.), dem bedeutenden Naturphilosophen, der in Athen ein wissenschaftliches Institut gründete, das er dreißig Jahre bis zu seiner Verbannung leitete. Sonnen- und Mondfinsternisse, die die Abergläubischen auf den Zorn der Götter zurückzuführen pflegten, rechnete er aus. Aber obwohl er behauptete, dass der höchste Grund für das Naturgeschehen nicht in der Natur zu suchen ist, sondern in der alles schaffenden und alles beherrschenden Vernunft, wurde ihm, ähnlich wie später dem Sokrates, ein Prozess wegen Atheismus gemacht. Er kam ins Gefängnis, und nur dem Einfluss seiner Freunde, vor allem des Perikles, gelang es, ihn vor der Todesstrafe zu retten. In einen Atheismus-Prozess verwickelt wurde übrigens auch mehr als zweitausend Jahre später Descartes, nämlich 1643, und auch ihm gelang es nur mit Hilfe seiner einflussreichen Freunde, unter anderen des erwähnten Constantin Huygens, Schlimmem zu entgehen. Viele waren weniger glücklich. 1574 wurde in Paris auf dem Platz de Greve Geoffroy Vallée als Atheist verbrannt, weil er in seinem Buch La Béatitude des Chrétiens ou le Fléau de la Foy (Das Glück der Christen oder die Geißel des Glaubens) die Ansicht vertrat, dass niemand Angst zu haben braucht vor Gott, weil Gott niemanden nach dem Tod bestraft.
Zurück zu Sokrates: dem bekanntesten Opfer eines Atheismus-Prozesses (= Gottlosigkeitsprozesses). Xenophon, neben Platon der berühmteste Schüler des Sokrates, berichtet in seinen Erinnerungen an Sokrates auch das, was er Sokrates über Gott sagen hörte: dass wir Gott selbst nicht zu Gesicht bekommen, sondern dass es uns genügen muss, seine Werke zu sehen. »Auch die Sonne, welche uns allen sichtbar zu sein scheint, lässt es nicht zu, dass die Menschen sie genau sehen können« (IV. 3,13). Einmal hörte Xenophon ein Gespräch, das Sokrates mit einem Zuhörer über die Frage führte, ob das Weltall durch Zufall oder durch weise Überlegung eines Gottes entstanden ist. Dieser Zuhörer, ein Sokrates-Fan mit Namen Aristodemos, machte sich über die Gottes-Verehrer lustig und behauptete, er könne Gott weder bewundern noch verehren, denn das Weltall verdanke sich dem Zufall. Darauf sagte Sokrates zu ihm: »Die ungeheuer großen und unzähligen Himmelskörper befinden sich nach deiner Meinung durch einen unverständlichen Zufall in so guter Ordnung?« Aristodemos: »Es scheint mir wirklich so, denn ich sehe den Verursacher nicht.« Sokrates: »Du siehst ja auch nicht deine Seele, welche die Gebieterin des Körpers ist, also müsste man dementsprechend behaupten, dass du nichts mit Überlegung, sondern alles zufällig tust.« Aristodemos stimmt schließlich Sokrates zu, dass das Weltall von Gott, der die höchste Vernunft besitzt, geschaffen wurde, aber er meint, Gott sei zu erhaben, als dass er sich um jeden einzelnen Menschen kümmert und deswegen brauche er ihn auch nicht zu verehren. Sokrates macht ihm dann an vielen Beispielen die Fürsorge Gottes für die Menschen klar und fragt, was Gott eigentlich noch tun müsse, »damit du überzeugt bist, dass er sich um dich kümmert?«. Wieso eigentlich sollte er, Aristodemos, in seinem Sich-Kümmern um andere Menschen und in seiner Fürsorglichkeit für sie Gott überlegen sein, während er auf allen anderen Gebieten (z. B. in der Vernunft bei der Ordnung des Weltalls) ihm zugegebenermaßen unterlegen ist? Richtig sei doch wohl vielmehr, dass »Gott so groß und solcher Art ist, dass er sich zugleich um alle Menschen kümmert« (1,4). Es ist übrigens auffallend, dass Sokrates in diesem Gespräch mit Aristodemos unterschiedslos die Worte »Gott«, »Götter« und »Gottheit« gebraucht. Eine ähnliche Unausgeglichenheit der Ausdrucksweise findet sich bei Homer, bei Sophokles und anderen Griechen. Über den vorchristlichen griechischen Gottesbegriff schreibt das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament von Kittel: Es »†«„stehen abwechselnd, oft nahe beieinander, die Ausdrücke »die Götter«, »der Gott«, »Gott«, »die Gottheit« in gleicher Bedeutung als Einheitsbegriff, als ob es nur eine einzige Macht wäre (III. S. 67). Die Ungenauigkeit der Sprache ist Ausdruck der Ungenauigkeit des Wissens. Die Christen hingegen haben das innergöttliche Leben statistisch genau erschlossen dank der ihnen 400 Jahre nach Sokrates zuteil gewordenen Offenbarung und mit Hilfe der Entscheidungen der ersten beiden christlichen Konzilien, die den jahrhundertelangen Streitigkeiten unter den Christen ein vorläufiges Ende setzten: die Gottheit des Sohnes wurde 325 auf dem Konzil von Nicäa, die Gottheit des Heiligen Geistes 381 auf dem Konzil von Konstantinopel festgelegt (vgl. Kapitel 12). Die Christen wissen also jetzt, dass Gott einer ist und in drei Personen existiert. Sokrates hingegen wusste, dass er nicht weiß, wobei Nichtwissen und Wissen, dass man nicht weiß, durchaus nicht dasselbe ist.
Ein Zeichen menschlicher Beschränktheit hingegen ist es, sich Gott, dem Unendlichen, mit Zahlen (eins, drei) nähern zu wollen. Die Selbstzufriedenheit der monotheistischen Religionen ist völlig unangebracht, insofern sie nur die irdische Hackordnung einschließlich männlicher Überlegenheit auf das Jenseits kopieren. Was Aristodemos betrifft: Es ist wahr, die Menschen trauen Gott, dem Urheber des Universums, ohne weiteres mehr Verstand zu, als sie selbst besitzen, aber Herz trauen sie ihm weniger zu als sich selbst.
Jede Mutter sucht ihr Kind dem Tod zu entreißen, aber Gott der Vater, so sieht es aus, lebt gleichgültig dahin unter lauter Sterbenden und Verwesenden. Darum auch fürchten die Menschen Gott mehr als sie ihn lieben. Lieben von ganzem Herzen können wir Gott vielleicht erst nach unserem Tod, wenn nur noch »die größte und unsichtbarste Hand den Schlüssel hat zu den verschütteten Särgen unserer verstorbenen Geliebten, zu denen kein Sterblicher« mehr vordringen kann (Jean Paul, Die unsichtbare Loge).
Als ich nach Erscheinen dieses Buches einen Vortrag in einer Bielefelder Buchhandlung hielt und anschließend Bücher signierte, kam zum Schluss der Buchhändler und bat mich, noch ein Exemplar zu signieren, zu dem er mir etwas erklären wolle. Ich sagte, das sei nicht nötig, ich wollte es auch so und auf jeden Fall signieren. Aber dann legte er eine Todesanzeige hin und sagte: Es handelt sich um diese Eltern, die eigentlich heute Abend kommen wollten, aber sie sind gestern in die USA geflogen zur Beerdigung ihres Sohnes, und die Mutter bat mich vorher, dieses Exemplar von Ihnen signieren zu lassen. Ich las die Todesanzeige: Unser einziger Sohn, Professor … Es folgte der Name einer Universität in Amerika. Ich war erschrocken und überlegte, wie kann ich nun in einem Satz alles sagen, sozusagen das End-Gültige, das am Ende noch Gültige? Ich dachte an die Auseinandersetzung über die Auferstehung, die Jesus mit den Sadduzäern, die nicht an die Auferstehung glaubten, hatte: »Und es kamen Sadduzäer zu ihm, die bekanntlich sagen, es gebe keine Auferstehung«, und dass Jesus zu ihnen sagte: »Was die Toten betrifft, dass sie auferweckt werden, habt ihr denn nicht gelesen im Buch Moses bei der Geschichte vom Dornbusch, wie Gott zu ihm sagte: Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs‘? Er ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen. Ihr irrt sehr.« (Mk 12, 18 ff.).
Und so schrieb ich also in das Exemplar. »Gott ist nicht ein Gott der Toten. sondern der Lebendigen« (Mk 12, 27). Ich weiß nicht, ob dieser Satz, den Jesus zu den Sadduzäern sagte, ein Trost sein konnte für jene Eltern.
Aber ich weiß, dass dieser Satz ein Trost war und ist für mich. Ich habe viel über diesen Satz Jesu nachgedacht. Es scheint, dass der Mensch aus zwei verschiedenen Teilen, die eine ganz verschiedene Laufzeit haben. zusammengefügt ist: Körper und Verstand (Geist, Herz, Seele, wie immer man den geistigen Teil des Menschen nennen will). Beide Teile sind in einem ständigen Wandel begriffen, wobei der eine Teil altert, der andere Teil wächst. Der Körper hat eine ganz beschränkte – Garantie kann man noch nicht einmal sagen – eine ganz beschränkte Laufzeit. Die körperlichen Schäden nehmen unaufhaltsam zu. Mancher Körper altert und wird nicht einmal alt. Denn alle altern, aber nicht alle werden alt. Aber der Geist des Menschen bleibt nicht nur völlig unbeschadet – außer bei einigen schweren Krankheiten – sondern wird sogar durch Schaden klüger. Durch Schaden wird man klug, wie jeder weiß. Über die vermehrte Intelligenz im Alter schreibt ausführlich Cicero in der vorhin erwähnten Schrift Über das Alter: »Fände sich diese Eigenschaft des vermehrten Urteilsvermögens nicht bei alten Leuten, so hätten die Römer nicht ihre höchste Ratsversammlung Senat, das heißt Rat der Alten, genannte (6,19). (Anmerkung: Senat kommt von „senex“ = der Greis). Wenn der Körper am Ende ist, dann ist der Verstand erst am Anfang. Die Seele verlässt den Körper, wenn dieser stirbt. Nicht, weil die Seele ihn verlässt, stirbt der Körper, sondern weil der Körper stirbt, verlässt die Seele ihn und geht zu dem Gott der Lebendigen, geht zu Gott und den anderen Lebendigen.«
»†«Zwar ist der Mensch nicht fähig, zu erkennen, wo die Seele außerhalb des Körpers sich befindet. Aber ist er denn fähig, zu erkennen, wo die Seele im Körper sich befindet? Zu denken, sie sei nach dem Tod des Körpers ebenfalls tot, weil wir sie nicht sehen, ist unüberlegt, denn wir haben sie ja noch nie gesehen. Die Seele ist von Anfang an unfassbar. Und was heißt »Anfang«? Ab wann der Mensch eine Seele hat, weiß niemand.
Und wenn die schwarzen Zweifel wieder kommen und Ratlosigkeit und Verlassenheit Überhand nehmen, seit mich der Tod meines Mannes aus der Verankerung riss, dann hat mich in meiner Trauer über die Vergeblichkeit meiner Erforschung des Unerforschlichen Immanuel Kant († 1804) getröstet, dass der Zweifel einen Sinn hat. Er sagt: Wenn wir die »Majestät« und »Ewigkeit« Gottes, des »Welturhebers«, sehen und »vollkommen beweisen« könnten, würden wir zu »Marionetten« erstarren. Unser Handeln bekäme »den Anstrich von Zwang und abgenötigter Unterwerfung«. Uneigennützigkeit und Selbstachtung würden Schaden leiden. Darum ist »die unerforschliche Weisheit, durch die wir existieren, nicht minder verehrungswürdig in dem, was sie uns versagte als in dem, was sie uns zuteil werden ließ« (Kritik der praktischen Vernunft und Kritik der Urteilskraft II, Allg. Anm. zur Teleologie). Kant ist von dem Leben nach dem Tod überzeugt, und zwar als »Fortdauer der Person und des Bewusstseins der Identität seiner selbst. Nicht Metempsychose«, wie er in seinem Nachlass schreibt. Metempsychose ist Seelenwanderung, an die inzwischen 38% der Deutschen laut Spiegel vom 15.8.05 glauben.
Ich möchte noch etwas anfügen, was nur mich persönlich betrifft. Für mich wäre es leichter gewesen, wenn mein Vater der ungläubige Skeptiker geblieben wäre, der er vor meiner Geburt war, zusammen mit seinen Eltern, meinen geliebten Großeltern. Aber leider wurde er kurz nach meiner Geburt gläubig durch den evangelischen Pfarrer Friedrich Graeber.
Unter Skeptikern verstehe ich nicht Leute, die an der Existenz Gottes zweifeln, sondern Zweifler, die an der Verstandesfeindlichkeit der christlichen Kirchen verzweifeln. Bei den christlichen Kirchen führt nämlich jeder Konfessionswechsel immer nur vom Regen in die Traufe. Die Traufe, in die ich – auf der Suche nach der großen Toleranz – durch meine Konversion zum Katholizismus geraten würde, hat mein Vater klar erkannt, den Regen, in dem ich in der evangelischen Kirche stand und stehen gelassen wurde, allerdings nicht. Um mich vor der Intoleranz der Katholiken zu schützen, wurde er selbst intolerant. Er suchte z. B. zu verhindern, dass ich meinen katholischen Klassenkameraden Edmund Ranke heiratete, was einen langen Schatten auf die Beziehung zu meinem Vater warf. Mein Vater sah, dass das nicht gut gehen konnte, als ich 1953 katholisch wurde, und es ging auch nicht gut. Aber klüger wird man nur durch erfahrenen Schaden, nicht durch angedrohten. Und Schaden nimmt man da wie dort, denn unter beiden Kirchendächern kann jemand, der anfängt zu denken und aufhört zu glauben, durch manchen unliebsamen Regen böse nassgeregnet werden. Mein frommer, strenger Vater Gustav Heinemann, der seinerzeit eine hohe Funktion in der evangelischen Kirche Deutschlands innehatte, die ihm persönlich mehr bedeutet hat als sein späteres Amt des Bundespräsidenten (1969 -1974), ist seit 1976 tot.
Und wir kommen uns immer näher.
Ich verstehe ihn jetzt immer besser und freue mich, bald wieder bei ihm zu sein.
Aus: Uta Ranke-Heinemann, Manuskript zur überarbeiteten Auflage des Buches „Nein und Amen – Mein Abschied vom traditionellen Christentum“, 1992
Dies Thema wird auch erwähnt in einem Gespräch mit Uta Ranke-Heinemann aus 2013 unter dem Titel Im Vatikan kommst du als Frau nur mit dem Staubsauger nach oben; siehe hier.