Ob lebendig, ob als Leich´

Text

Ob lebendig, ob als Leich‘

Ostermarsch-Rede Essen 6.4.1985

Wo dem Menschen ein schlechtes Gewissen anstände, hat er gewöhnlich nur ein schlechtes Gedächtnis. Wenn schon nicht ein gutes Gewissen, so ist ihm doch dieses schlechte Gedächtnis das sanfte Ruhekissen, auf dem es ihm gelingt, sich aus seiner Verantwortung herauszuschlafen. Denn wenn er aufschrecken würde bei Nacht und Traum vor eigener Schuld und eigenem Versagen, wie sollte er dann jemals wieder so gut in seinen Schlaf kommen können?

Wie hätte z. B. vor 40 Jahren Otto Normalschläfer noch schlafen, wie hätte er noch leben können, wenn ihn sein Erinnern gestört und ihn geweckt hätte mit den Bildern der zusammengetriebenen und abtransportierten Menschen? Die für Millionen Menschen tödliche Schlafkrankheit des Gewissens war eine fast totale Epidemie. Ihre Folgen wirken auch jetzt nach. So nimmt es denn kein Wunder, dass der amerikanische Präsident in Übereinstimmung mit dem deutschen Bundeskanzler kein ehemaliges KZ besuchen will, um nicht, wie er sagt, alte Narben aufzureißen und negative Gefühle zu wecken. Das menschliche Gedächtnis reicht nicht mehr zurück und soll nicht mehr zurückreichen.

Die Herren wollen ihren Kopf freihalten von ihrem Gedächtnis an die Opfer von gestern, denn es konnte ihr Freundschafts- und Eierkuchenprogramm stören. Sie sehen nicht, dass jedes Programm, wenn es das Schreckliche unserer jüngsten Geschichte aus dem Gedächtnis streicht, sich aus der Verantwortung stiehlt, die aus dieser Geschichte wächst, aus der Verpflichtung nämlich, dass dergleichen niemals wieder geschieht.

Der Mensch hat ein schlechtes Gedächtnis. das gilt auch für den Krieg und dessen Opfer. Wenn heute einen sein Gedächtnis überfiele mit dem Gedenken des Blutes und des Feuers vor 40 Jahren, mit dem Gedenken des Leidens und Sterbens so vieler Menschen in Europa und in vielen Teilen der Welt darüberhinaus, wie könnte er es dann für möglich halten, ja selbst möglich machen, dass noch einmal auf das Kommando irgendwelcher Herren hin sich wieder Gewehr gegen Gewehr richten würde, Panzer gegen Panzer, Mensch gegen Mensch.

Aber 40 Jahre nach dem großen Tod steht wieder der Mensch gegen den Menschen. Armee gegen Armee, Rakete gegen Rakete. Wieder glaubt jeder, er trage für eine gute Sache den Tod des anderen in seiner Hand, und es ist doch für beide derselbe Tod und für keinen eine gute Sache.

Vor 40 Jahren ist Hiroshima geschehen. Wenn wir ein Gedächtnis hätten, würden seine Opfer uns ins Gesicht sehen. Aber in unserem Land. d. h. allem in NRW, stehen Waffen bereit für Tausende Hiroshimas.

Es wurden vor 40 Jahren so viele Tote begraben in unserem Land, aber schon wird wieder das Ausheben von Massengräbern geübt. Die Herren, die das immer befahlen und befehligen, die Raketen und die Massengräber und die kommenden Hiroshimas, die sind nach Kräften immer weit vom Schuss und in möglichster Sicherheit.

Vor 40 Jahren hat die deutsche Reichsregierung in Bunkern ihr Volk verraten, weil sie es zu überleben versuchte, als die Städte brannten, als Bomben ihre Bürger töteten, als deutsche Soldaten — millionenfach halbe Kinder noch — einen sinnlosen Tod sterben mussten für die Machthaber in den Bunkern.

40 Jahre danach hat eine andere deutsche Regierung sich wieder einen Bunker gebaut. Ich kenne den Unterschied zwischen einer demokratischen und einer diktatorischen Regierung sehr wohl, aber in ihrem Sinn für das eigene Überleben sind sich alle Bunkerregierungen gleich. „0b lebendig, ob als Leich‘ “. Und so bin ich überzeugt, dass die Regierung in Moskau ihren Bunker besitzt, und ich bin überzeugt, dass die Regierung in Washington ihren Bunker hat. Es hat sich bei den Herrschenden eine Internationale der Deserteure im Geist zusammengefunden, die auf dem Sprung sind, im Falle eines Falles ihre Völker um ihrer eigenen Haut willen fluchtartig zu verlassen. Wenn ein Soldat seine Truppe verlässt, wird er hinterher wegen Fahnenflucht verurteilt.

Wenn dagegen unsere Regierung ihr Volk zu verlassen beabsichtigt, dann wird sie schon vorher mit Steuergeldern dazu instand gesetzt. Wenn man unsere Regierung fragen würde, warum sie denn Schaden von (sich) selbst abwenden wolle, statt Schaden vom Volke abzuwenden, dann wird (sie) sagen, dass (sie) ihren Bunker unter der Erde für den Frieden baue wie auch die Raketen über der Erde für den Frieden stationiert, wie sie immer mehr Raketen stationiert für immer mehr Frieden. Wir schließen daraus, dass wenn auf jedem Quadratmeter unseres Landes eine Rakete steht, der vollkommene Friede ausgebrochen sein wird.

Manche vertrauen solchem Hoch- und Tiefbau der Regierung. Andere haben ihre Zweifel. Aber allen gemeinsam wird, wenn die Regierung eines Tages sich in ihren Friedensbunker verzieht, nichts anderes übrigbleiben, als draußen vor der Tür zu stehen und zwischen den Raketen in Deckung zu gehen.

Das wird dann eine verkehrte Welt sein, in der das Reich der Lebenden und das Reich der Toten vertauscht sind. Es werden nicht mehr wie bisher die Lebenden auf der Erde und die Toten unter der Erde, es werden vielmehr die Lebenden unten und die Toten oben sein.

Und die Unterirdischen werden einmal aus ihren Erdlöchern in die Hölle steigen. Darum sollte man der Regierung verbieten, am Ende in einem Bunker Schutz vor den Folgen ihrer Friedenspolitik zu suchen. Nachdem sie unser Land zu einer Raketenplantage gemacht hat, soll sie auch mit uns gemeinsam die Fallobsternte ihres Todesanbaus genießen.

Wir haben ein schlechtes Gedächtnis. Als wäre nichts geschehen, lernen wir von den Politikern und Strategen das Wahnsinnsalphabet der ABC-Waffen für den Frieden. Aber wer „a“ gleich atomar und „b“ gleich biologisch und „c“ gleich chemisch sagt, der muss am Ende auch „z“ sagen, und „z“ wird die Zerstörung der Erde bedeuten.

In der Schule lernte der Abc-Schütze von früher, dass er nicht für die Schule, sondern für das Leben lernt. Jetzt aber in der neuen deutschen höheren Abc-Schießschule lehrt uns die Regierung ein neues Schützen-Abc, und das lernen wir nicht für die Schule, und das lernen wir nicht für das Leben, das lernen wir nur für den Tod. Wer glaubt, dass das Abc der Waffen das Alphabetisierungsprogramm einer friedlichen Menschheitszukunft sein wird, der hat die Lektion der Geschichte nicht gelernt oder schnell vergessen.

Denn noch niemals haben Raketen Frieden verschossen, noch niemals haben Bomben Frieden vom Himmel geregnet, Waffen haben nie etwas anderes als töten gelernt. Der Tod aus den Waffen von vor 40 Jahren liegt in 50 Millionen Gräbern über die Erde verstreut.

Es wäre gut, wenn wir uns an ihn erinnerten.