Die letzte Spielzeit

Text

Die letzte Spielzeit

Auf der Demonstration in Bonn am 22.10.1983 auf dem Frauenforum

Die letzte Spielzeit im deutschen Theater ist eröffnet. Die Stationierung der Raketen ist im Gange. Das ist der erste Akt. Die Anlage der Massengräber ist geprobt. Diese bilden den letzten Akt. Aus diesem Stück werden wir nicht mehr nach Hause gehen, denn an seinem Ende wird auch das Publikum begraben, wenn denn noch Statisten da sein werden, uns zu verscharren. Andernfalls werden wir nach der Massakrierung unter freiem Himmel liegenbleiben, und das wird unsere letzte Freiheit sein. Aber der Himmel wird kein Himmel mehr sein, sondern eine verseuchte Wüste, ein Leichentuch über dem entstellten Gesicht der Erde.

Das ist das Spiel, das die Mächtigen mit uns spielen, und wir dürfen nichts dagegen tun. Widerstand ist nicht erlaubt, sagen die Massengräberfabrikanten. Das wäre Gewalt, sagen die Gewalthaber. Zu allen Zeiten hat man den Opfern verboten, zu widerstehen, sich zu widersetzen, zu widersprechen, ja sogar zu widerdenken. Die nächsten in der Reihe der Opfer sind diesmal wir und alle. Aber wir wollen nicht schweigen. Die Stationierung der Raketen ist ein Verbrechen an der Menschheit, sagt der Weltkirchenrat. Was können wir gegen dieses Verbrechen tun? Nichts dürfen wir tun, sagen die Mächtigen, denn auch gewaltloser Widerstand ist Gewalt. Aber wenn Ihr Frauen Kinder geboren habt, und Ihr tut nicht mehr für sie, und Ihr haltet Euch still, und Ihr haltet den Mund, dann habt Ihr sie für den nuklearen Tod geboren. Und wenn Ihr Frauen Kinder gebären wollt, und Ihr fallt den Raketenherren nicht in den Arm, dann werdet Ihr sie für das Massengrab gebären.

Wenn Widerstand auch kein Recht ist, das uns die Herren zu gewähren geneigt sind, so ist er doch eine Pflicht, die uns im Gewissen bindet, weil wir und alle ein Recht haben, auf dieser Erde zu leben. Macht Euch nicht abhängig von der Erlaubnis, etwas für Euer und Euer Kinder Überleben zu tun. Wartet nicht auf andere. Wartet nicht auf die Männer. Freut Euch, wenn sie mitmachen, wartet nicht auf sie, wenn sie es nicht tun. Erwartet nichts von den Regierungsherren. Wenn es so weit ist, werden sie Euch nicht helfen können. Da sie gegen den Einsatz der Raketen im Kriegsfall noch nicht einmal ein Vetorecht beanspruchen, hat sich unsere Ja-und-Amen-Regierung selbst zu einem subalternen politischen Kastratenchor entmannt. Erwartet nichts von den Besatzungsmächten, deren Hoffnung es ist, daß der nächste Krieg weit weg von ihnen in Europa stattfindet. Dafür tun sie alles, und dafür bauen sie auch die Raketen in unserem Land. Sie hoffen, daß in einem Wenn-schon-denn-schon-europäischen Krieg die Suppe in Amerika nicht so heiß gegessen wird, wie sie hier bei uns gekocht wird. Aber leider werden wir darüber nuklear verkocht. Erwartet nichts von den Kardinälen. Sie haben Euch längst ihren kirchenfürstlichen Rücken gekehrt. Sie haben erklärt, daß es unchristlich ist, Widerstand gegen die Raketenstationierung zu leisten. Sie haben uns für unglaubwürdig erklärt, weil wir nichts gegen die Abtreibung sagen würden. Abgesehen davon, daß das eine Unwahrheit ist, ist vielmehr der unglaubwürdig, der gegen die Abtreibung des ungeborenen Lebens seine Stimme erhebt, aber gegen die Vorbereitung der Abtreibung der gesamten Menschheit von diesem Planeten nichts unternimmt. Unglaubwürdig ist der, der fiktiven Kindern mehr Schutz vor der Empfängnisverhütung gewährt als den lebenden Kindern vor der Massenvernichtung. Erwartet von keinem Menschen etwas außer von Euch selbst und Eurer gemeinsamen Kraft. Setzt Euch dafür ein, daß das Spiel, das mit uns gespielt werden soll, vom Spielplan abgesetzt wird, sonst wird es damit enden, daß das ganze Theater explodiert und uns unter sich begräbt. Erst wenn es zu spät sein wird, werden viele noch viel zu viel schreckliche Zeit haben, zu begreifen, daß das, was über uns zusammenbrach, eigentlich ein Irrenhaus war.

Die irren Irrenhausdirektoren dieser Welt sind losgelassen. Mit ihrem Wahn von immer mehr Frieden durch immer mehr Raketen basteln sie am Untergang der Welt. Es gibt ja gar nicht so viel Einwohner des menschlichen Tollhauses wie sie töten können. Aber sie verlangen in ihrem Macht- und Blutrausch nach noch mehr Möglichkeit zu noch mehr Tod.

Auch wenn unser Staat sich immer mehr zu einer Maulkorbkultur entwickelt, sagt nein zu diesem Wahn und diesen Verbrechen und diesen Verbrechern, solange es noch Zeit ist. Sagt nein, solange Ihr noch einen lebendigen Mund habt, es zu sagen. Euer Nein ist die einzige Chance, die wir alle miteinander haben.