Mein Vater Gustav der Karge
von Prof. Dr. theol. Uta Ranke-Heinemann
Rede am 22. August 2006 zum 30. Todesjahr im Haus der Kirche in Essen
Vorbemerkung
Ich möchte, bevor ich meinen Vortrag über meinen Vater, Gustav den Kargen, beginne, eine Vorbemerkung machen.
Mein Sohn Andreas besitzt eine Karrikatursammlung über meinen Vater. Darin ist eine Karrikatur aus der Süddeutschen Zeitung vom 13.9.1969, also vom Anfang seiner Amtszeit. Die Karrikatur heißt: „Auf dem Feldherrnhügel“. Sie wurde am 4.9.1973, also gegen Ende seiner Amtszeit, noch einmal veröffentlicht in „Der Abend. Berlin“ mit dem Titel: „Der gewisse Unterschied liegt in der Blickrichtung“.
Auf dieser Karrikatur sieht man meinen Vater auf einem Podest, umgeben von Generälen und Soldaten. Über ihnen fliegen Kampfflugzeuge. Alle Militärs blicken zu den Kampfflugzeugen, einzig mein Vater blickt in die entgegengesetzte Richtung. Dort sieht man eine kleine, weiße Friedenstaube. Mein Vater sah nämlich seine politische Aufgabe in der Kriegsvermeidung. Er sagte: „Der Friede ist der Ernstfall, nicht der Krieg“.
Aber ich habe den Eindruck, nach seinem Tod wird das Erbe meines Vaters oft und bewußt unterschlagen, da seine Idee der aktiven Friedenssicherung und Friedensschaffung dem Zeitgeist nicht mehr entspricht. Und jede Würdigung meines Vaters, die seine Friedensgedanken nicht zentral berücksichtigt, ist in meinen Augen eine Verfälschung seines Erbes.
Und nun mein Vortrag:
Mein Vater Gustav der Karge
Abseits von den offiziellen Reden, die bei einem solchen Anlaß gehalten werden, möchte ich nur einige private Worte sagen, Inoffizielles sozusagen. Denn über seine Eltern bzw. seinen Vater kann man eigentlich gar nicht reden, so wie man auch nicht über sich selbst reden kann. Man hat gar keine Objektivität. Wie das chinesische Sprichwort sagt: dem Kind ist die Mutter nicht zu häßlich, dem Hund ist die Familie nicht zu arm. Das stimmt (obwohl ich eine hübsche Mutter hatte). Hinzu kommt, dass mein Vater ein Mensch war, der kein Aufhebens von sich machte.
Mein Vater war ein schweigsamer Mensch, von Kindheit an. Große Sätze waren nie seine Art. Er sagte: „Die Leute sind mir am liebsten, die nichts zu sagen haben und es doch nicht sagen“. Ich verstehe das so: dass er unter den Leuten litt, die ausführlich über Überflüssiges reden. Einmal hat ihm das ein Ministerialdirigent sehr übel genommen. Mein Vater hatte im Anschluß an dessen endlos lange Rede gesagt: „Es ist das Geheimnis der Langweiligkeit, bei jeder Gelegenheit alles zu sagen“, was viele erschöpfte Zuhörer freute, den Ministerialdirigenten aber nicht.
Mein Vater war ein Meister in der Kunst, sich kurz zu fassen. Als Kind allerdings hätte man es manchmal gern ausführlicher. Zum Glück hat mein Vater in meiner Mutter eine Interpretin für die Außenwelt gefunden. Deswegen spricht man ja auch zurecht von „Muttersprache“ nicht von „Vatersprache“. Ich will ihnen ein Beispiel schildern: einmal kam die Rede darauf, dass er Kardinal Döpfner getroffen hatte. Ich wollte von meinem Vater wissen, welchen Eindruck er vom Kardinal hat. Die Antwort gab meine Mutter, natürlich meine Mutter. Sie sagte: „Vati meint, dass der Kardinal ein Mann ist, der gut zuhören kann.“ Mein Vater stand neben ihr und nickte. Und ich dachte: muß das ein lebhaftes Gespräch gewesen sein, wo der eine, mein Vater, schweigt, und der andere, der Kardinal, gut zuhört.
Große Sätze also waren nicht seine Art. Manchmal allerdings bildete er plötzlich Nonsenssätze, z.B. sagte er: „Hier denkt jeder nur an sich, nur ich, ich denk an mich“. Oder: „Die Eltern sollten nicht eher heiraten als bis die Kinder sie ernähren können“. Oder: „Die Leute liebe ich, die beim Arbeiten frieren und beim Essen schwitzen.“ Oder: „Kindererziehung ist völlig überflüssig, die Kinder werden doch wie die Eltern.“ Manchmal sagte er auch Wegweisendes. Und wenn ich nach einem Motto gefragt werde, dann fällt mir immer eine Perle meines Vaters ein, ein Satz, der mir tatsächlich schon oft geholfen hat. Mein Vater sagte: „Wer sich nicht zu helfen weiß, ist nicht wert, dass er in Verlegenheit kommt“. So etwas ist hilfreich wenn man z.B. im vollen Scheinwerferlicht etwas gefragt wird, von dem man keine Ahnung hat.
Große Sätze waren also nicht seine Art. Aber kleine noch weniger. Bei small talk versagte er völlig. Das fiel mir besonders bei einem Staatsempfang in Rumänien auf, als ich sah, wie die lady neben ihm sich abmühte, ein Gespräch mit ihm in Fluß zu halten. Dabei hätte er nur um sich gucken brauchen, wie Außenminister Scheel so etwas macht, der auf diesem Gebiet hervorragend war, egal neben wen man ihn plazierte. Hinterher sagte ich zu meinem Vater: das härteste Schicksal, das eine Frau treffen kann, ist, deine Tischnachbarin zu sein.
Nicht viel Worte machen ist nicht dasselbe, wie keine Reden halten können. Es scheint schon eher verwandt mit nicht singen können. Mein Vater jedenfalls konnte überhaupt nicht singen. Einmal, sagt meine Großmutter, von uns immer „Mädi“ genannt, kam er ganz bekümmert aus der Schule und meinte, er sei ein böser Mensch. Wieso das denn? In der Schule hätten sie gelernt:
Wo man singt, da laß dich ruhig nieder,
böse Menschen haben keine Lieder.
Ich persönlich kenne keinen Menschen, der so wenig von Massensuggestion vereinnahmbar war wie mein Vater. Was seine Abneigung gegen das Naziregime anbelangt, seine Hilfsbereitschaft gegenüber Juden und Kommunisten (Hitler: „der jüdische Bolschewismus“), darüber haben seine Biografen ausführlicher berichtet als ich das kann. Hier nur dies: in seinen letzten Jahren gab es allerdings einen Berufsstand, mit dem er meines Erachtens etwas freundlicher hätte umgehen können: die Pressephotografen. Das Blitzlicht tat seinen Augen weh. Er hatte von meiner Mädi, meiner blinden Großmutter, eine Netzhautablösung geerbt. Aber das war nicht der eigentliche Grund. Bei seiner mangelnden Eitelkeit konnte er einfach nicht verstehen, warum das Photo von gestern nicht auch für heute noch reicht.
Ich erinnere mich an einen Bonner Presseball. Mein Vater wollte mal wieder den Photografen entkommen. Und während am Haupteingang viele Menschen auf ihn warteten, ging er mit meiner Mutter durch eine Küchentür hinten ins Gebäude, setzte sich dann unauffällig hin und verschwand dann sofort – wegen des ohrenbetäubenden Lärms – in einem stilleren Nebenraum. Den ganzen Abend über wurde ich gefragt: „Ist ihr Herr Vater denn nicht da?“. Ich sagte: „Er ist wohl da, aber nicht hier, bzw. er ist hier, aber nicht da.“ Hinterher sagte ich zu meinem Vater, das hast du verkehrt gemacht. Besser du gehst vorne auffällig rein und dann hinten unauffällig raus, dann denken alle, du bist da. Auf diese Weise machst du dir einen friedlichen Abend. Wenn du aber hinten unauffällig reingehst, beklagen sich alle, dass du überhaupt nicht gekommen bist.
Manche meinen, mein Vater sei so trocken gewesen und nannten ihn „Gustav den Kargen“. Das stimmt gewisserweise gar nicht. Er war privat voll Witz und Selbstironie. Manches davon ging mir erst sehr viel später auf. Zum Beispiel dies: Meine Schwester Christa und ich, damals etwa 6 und 7 Jahre alt, kamen eines Tages bedrückt aus der Schule: „Die anderen Kinder können so schön mit ihrem Vater angeben, nur wir nicht.“ Darauf sagte mein Vater: Doch, ihr könnt ja sagen, euer Vater hat eine Hypothek auf dem Haus. Wir waren begeistert, hatten natürlich keine Ahnung, was eine Hypothek ist und erzählten am nächsten Tag der Klasse: unser Vater hat übrigens eine Hypothek auf dem Haus. Damit stieg unser Prestige enorm.
Bei der Gelegenheit fällt mir ein Satz ein, den mein Sohn Andreas prägte, als er im gleichen Alter wie meine Schwester und ich war. Im Anschluß an die Bundespräsidentenwahl 1969 fragte ihn ein Reporter: na, Andreas, was sagst du denn dazu, und er sagte: „Endlich ist Opa auch mal Bundespräsident“.
Übrigens, die „Hypothek“ meines Vaters, die meine Schwester Christa und mich so beeindruckte, war eine rein virtuelle Pointe, mein Vater hatte nie eine Hypothek, weil er sein Leben lang kein einziges Haus besaß, sondern als Dienstwohnung mit uns eine Villa der Rheinischen Stahlwerke bewohnte.
Ich möchte noch etwas erwähnen, was eigentlich nicht hierher gehört, weil es nur mich persönlich betrifft. Für mich persönlich wäre es leichter gewesen, wenn mein Vater der ungläubige Skeptiker geblieben wäre, der er vor meiner Geburt war, zusammen mit meinen Großeltern Mädi und Opa. Aber leider wurde er kurz nach meiner Geburt gläubig durch den evangelischen Pfarrer Friedrich Graeber. Unter Skeptikern verstehe ich nicht Leute, die an der Existenz Gottes zweifeln, sondern Zweifler, die an der Verstandesfeindlichkeit der christlichen Kirchen verzweifeln. Bei den christlichen Kirchen führt nämlich jeder Konfessionswechsel immer nur vom Regen in die Traufe. Die Traufe, in die ich durch meine Konversion zum Katholizismus geraten würde, hat mein Vater klar erkannt, den Regen, in dem ich in der evangelischen Kirche stand und stehen gelassen wurde, allerdings nicht. Um mich vor der Intoleranz der Katholiken zu schützen, wurde er selbst intolerant und suchte zu verhindern, dass ich meinen katholischen Klassenkameraden Edmund Ranke heiratete. Das hat einen langen Schatten auf unsere Beziehung geworfen. Er sah, dass das nicht gut gehen konnte, als ich katholisch wurde und suchte das mit aller Kraft zu verhindern. Und es ging ja auch nicht gut. Aber klüger wird man nur durch erfahrenen Schaden, nicht durch angedrohten. Und Schaden nimmt man da wie dort, denn unter beiden Kirchendächern kann einer, der anfängt zu denken und aufhört zu glauben, durch manchen unliebsamen Regen böse naßgeregnet werden.
Mein Vater ist seit 1976 tot. Und wir kommen uns immer näher. Ich verstehe ihn jetzt immer besser – und ich denke, er hat jetzt alles begriffen. Und ich bin jetzt froh, dass mein Vater, dass mein Vater und meine Mutter so waren, wie sie waren, genau so. Und ich tröste mich in meiner Ungetröstetheit über ihren Tod mit einer Stelle aus einem Kondolenzbrief, den der Philosoph Descartes am 13. Oktober 1642 an seinen Freund Constantin Huygens schrieb, den Vater des berühmten Astronomen Christian Huygens. Constantin Huygens hatte seinen Bruder verloren. Und Descartes schrieb: dass die Toten, die von uns gingen, hinübergehen zu einem besseren Leben. Wir Menschen seien geboren „für viel größere Freuden (plaisirs!) und ein viel größeres Glück, als wir sie auf dieser Erde erleben können. Und wir werden die Toten dereinst wiederfinden, und zwar mit der Erinnerung an das Vergangene, denn in uns befindet sich ein intellektuelles Gedächtnis, das ganz zweifellos unabhängig von unserem Körper ist.“ Er sei von diesem Leben nach dem Tod „überzeugt durch natürliche und ganz offensichtliche Gründe“.
Was für natürliche und ganz offensichtliche Gründe? Über diesen Satz habe ich 10 Jahre nachgedacht, seit 1996, denn ich begriff nicht: wieso bitte ist Descartes, der große Zweifler, im Oktober 1642 in seinem Brief an Huygens überzeugt „durch natürliche und ganz offensichtliche Gründe“ von einem Leben nach dem Tod und einem Wiederfinden der geliebten Toten, obwohl er anderseits im Mai desselben Jahres 1642 (in der 2. Auflage seiner Meditations metaphysiques) überzeugt war, dass man zwar das Dasein Gottes, aber nicht das Leben nach dem Tod beweisen kann?
In diesem Jahr schließlich kam ich drauf: das französische Wort, das Descartes in seinem Brief an Huygens benutzt für „überzeugen“, ist nicht das französische Wort convaincre = beweisen, von dem lateinischen vincere = besiegen, convincere = widerlegen, was im Fall eines Verbrechens bedeutet: den Verbrecher überführen. Sondern Descartes benutzt hier das französische Wort persuader. Darin steckt das lateinische suavis, das deutsche süß, das englische sweet. Es ist also kein kaltes Wider-Legen, sondern ein süßes Nahe-Legen.
Descartes schreibt in seinem Brief an Huygens weiter, er teile mit den meisten Menschen die „Schwäche“, dass wir, was das Jenseits betrifft, weniger beeindruckt sind durch das, was die Religion uns darüber lehrt, sosehr wir uns bemühen, es zu glauben, an das aber unser Verstand nicht heranreicht, als durch das, was unserem Verstand auch durch „natürliche und ganz offensichtliche Gründe“ nahegelegt wird.
In der Tat: Wenn man das Buch des Universums erforscht und das Ewigkeitsverlangen des eigenen Herzens entziffert, dann ahnt man, dass der Mensch aus Liebe entstand, aus der Elternliebe nämlich, und zur ewigen Liebe unterwegs ist. Das Universum ist voll süßer Überredung, dass wir die geliebten Toten wiederfinden werden, wie Jesus zu den Sadduzäern, den damaligen Zweiflern an einem Leben nach dem Tod, sagte: „Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden. Ihr irrt euch sehr“ (Mk 12).